Vor den aufkeimenden romantischen Gefühlen nehme ich mich in Acht, misstraue ihnen. Hat mich das Misslingen meiner Beziehung zu Melanie tiefer erschüttert, als ich es wahrhaben will? Spielt mir vielleicht mein gekränktes Ego einen Streich, indem es Mariella in ein schöneres Licht taucht?
Bei ihr zu Hause angekommen fragt Mariella, ob ich mit hochkommen möchte. Ich hätte schon Lust, aber morgen muss ich ein Referat halten und dafür noch ein Handout erstellen. Wie ärgerlich, dass ich diese Arbeit bis zum letzten Tag vor mir hergeschoben habe! Aber eigentlich ist es nur eine Ausrede. Auf dem Weg ins Wohnheim stelle ich mir vor, wie Mariella und ich uns in ihrem Zimmer bis auf die Unterwäsche ausziehen und unsere Oberbekleidung auf einem Wäscheständer, den wir vor den Heizkörper stellen, zum Trocknen ausbreiten. Mariella könnte sich gleich etwas Trockenes anziehen, aber in meiner Vorstellung tut sie es nicht. Sie bereitet einen Pfefferminztee... und dann fällt es mir wirklich schwer, meine Fantasie im Zaum zu halten. Im Heim angekommen habe ich Mühe, mich auf mein Referat zu konzentrieren.
Jetzt bin ich dreimal mit Mariella zusammengetroffen, und sie gefällt mir immer noch so gut wie beim ersten Mal. Sie ist intelligent und attraktiv, hübsch und vermutlich bereits in festen Händen.
Vierte Begegnung (Adventspunsch )
In der Zeit vor Weihnachten komme ich noch ein weiteres Mal mit Mariella zusammen und zwar beim Adventspunsch des RINGs:
An diesem Abend habe ich Tanzkurs, so dass ich erst gegen halb elf zur Gruppe stoße. Einige Nibelungen haben sich bei Punsch und Plätzchen in die Stockwerksküche zurückgezogen und langweilen sich sichtlich. Eine zweite Gruppe spielt im Clubraum Karten. Ich geselle mich zu den Nibelungen in der Küche, bei denen Mariella sitzt. Die Küchenrunde entschließt sich, in die Kellerbar umzuziehen, wohin ihr die Kartenspieler bald nachfolgen. Dort hebt sich die Stimmung rasch. Mariella sitzt mir gegenüber. Ich ertappe mich dabei, wie ich sie schon wieder beobachte. Wird sie Mitglied im RING bleiben? Vom guten Geist des RINGs ist heute wenig zu merken. Hat er seinen Zenit überschritten und setzt nun ein langsamer Niedergang ein? Mariella nimmt es mit Fassung. Ich begleite sie nach Hause.
Nach dem Ende meiner Beziehung zu Melanie habe ich mir vorgenommen, auf geselligen Veranstaltungen grundsätzlich mit weiblicher Begleitung zu erscheinen. Entsprechend dieser Absicht lade ich Mariella zum Faschingsball des VCS ein. Ich hole sie ab, und wir gehen zu Fuß zum Heim. Von dort ist ein Fahrdienst zum Ballsaal organisiert. Auf dem Ball herrscht schon dichtes Gedränge, als wir eintreffen. Ich tanze fast nur mit Mariella. In den wenigen Tanzpausen sitzen wir neben Ulrike und Michael, Haralds Bruder, der in Ulrike verliebt ist. Ulrike ist mir einigermaßen lästig. Anstatt sich um ihren Begleiter zu kümmern, versucht sie, mit mir anzubandeln. Ihre Annäherungsversuche ignoriere ich geflissentlich und konzentriere mich ganz auf Mariella. Einmal lege ich wie unbeabsichtigt die Hand auf ihren Arm, lasse sie dort liegen. Sie lässt es sich gefallen.
Als der Ball sich zum Ende neigt, fahren wir zurück zum Heim. Dort wird in der Bar weiter gefeiert. Ulrike, die mir gegenübersitzt, wirft mir auffordernde Blicke zu, die ich vorgebe, nicht zu bemerken. Ich hoffe, dass sie Mariella nicht auffallen. Während Mariella mit Felix tanzt, und ich zuschaue, wird mir bewusst, dass ich von ihr angerührt bin. Mariella wird müde. Ich bringe sie nach Hause. Sie bedauert, mich aus der fröhlichen Runde herausgerissen zu haben. Ich versichere ihr, ich sei genauso müde wie sie. Sie wünscht mir noch viel Spaß.
Rosenmontagsball und eine Einladung
Kurz nach diesem Ball findet als erste Veranstaltung des RINGs im neuen Jahr ein gemeinsamer Winterspaziergang durch den verschneiten Eberforst statt. Hinterher, als die Nibelungen sich in der Bar wieder aufwärmen, teilt Bernd mit, er werde zum morgigen Rosenmontagsball ins Bonhoeffer-Wohnheim kommen. Auch sie werde vielleicht teilnehmen, bemerkt Mariella. Ich kündige umgehend an, dass ich sie zum Ball begleiten werde, ein Anerbieten, das sie ohne Umstände annimmt. Warum bloß habe ich sie nicht schon früher eingeladen?
Jedenfalls hole ich am nächsten Tag Mariella ab. Sie will vor dem Ball von einer Zelle aus noch rasch ihre Eltern anrufen. In der Zwischenzeit besorge ich Zigaretten für sie. Im Vorbeigehen, sie wartet vor der besetzten Telefonzelle, lächle ich ihr zu. Sie erwidert mein Lächeln. In diesem Augenblick wird mir bewusst, dass ich in sie verliebt bin.
Kurz nach Mariella und mir trifft auch Melanie im Ballsaal ein. Sie ist vorteilhaft kostümiert als holländisches Bauernmädchen mit Holzpantoffeln an den Füßen, die sie zum Tanzen auszieht. Mariella ist richtig angetan von ihr, und ich erzähle ausführlich von Melanies netter Familie. Heute betrachte ich Melanie mit gelassenem Wohlwollen. Mit Befriedigung stelle ich fest, dass sie für mich eine gute Freundin bleibt, aber das ist etwas anderes als meine Zuneigung zu Mariella.
Besitz ergreifend lege ich den Arm um Mariella. Sie schlägt vor, wir sollten uns an die Bar setzen, was wir gleich in die Tat umsetzen. Mariella spricht davon, dass sie sich morgen zum Altweibertanz verabredet habe. Bernd, der sichtlich Gefallen an Mariella gefunden hat, verspricht ebenfalls zu kommen. Vorsichtig frage ich an, ob sie zum Altweibertanz alleine hingehen wird, nicht dass sie dort etwa mit einem Kavalier auftaucht. Mariellas Antwort erscheint mir ausweichend. Wahrscheinlich ist sie mit keinem Konkurrenten verabredet. Trotzdem bin ich zu stolz, mich der Möglichkeit einer solchen Situation, Mariella begleitet von einem anderen Mann, auszusetzen. Ich beschließe, nicht zu kommen.
Mit dem Fortschreiten des Abends verkleinert sich der Kreis. Man rückt zusammen. Lieder werden angestimmt. Mariella erwähnt ganz nebenbei, sie plane eine Party für Ostermontag bei sich zu Hause in Maiburg. Sie fragt Klaus, ob er Lust habe, zu dieser Party nach Maiburg zu kommen. Klaus hat Lust. Dann sagt sie an mich gerichtet: „Du kannst auch kommen.“ Ich antworte: „Gern“, aber ist das nun eine richtige Einladung? Details nennt sie nicht. Mir kommt das Angebot ziemlich vage vor. Endlich löst sich die Runde auf und ich begleite Mariella nach Hause. Auf die Einladung zur Party kommt sie nicht wieder zu sprechen.
In den Osterferien, die ich mit meinen Schwestern bei meiner Großmutter in Junghafen verbringe, denke ich über die Einladung nach. Soll ich Mariella anrufen? Ich telefoniere stattdessen mit Klaus. Der ist inzwischen tatsächlich entschlossen, zur Party nach Maiburg zu reisen. Am Ende erscheint es mir angeraten, Mariella einen Brief zu schreiben mit der Bitte um ein paar nähere Angaben zur geplanten Party. Sollte sie auf dieses Schreiben nicht reagieren, dann bin ich auch nicht wirklich eingeladen. So fabuliere ich also drauf los:
„Junghafen, den 7., 8. oder 9. März 1970
Diesem Brief, liebe Mariella, liegen zwei Annahmen zu Grunde. Erstens: dass Dein Geburtstag in diesen Monat fällt, und ich zweitens das falsche Datum treffe. Hätte ich nur besser zugehört!
Ich nehme also eine würdige Haltung ein, räuspere mich und spreche Dir hiermit, sei es auch vor- oder nachträglich, meine herzlichen Glückwünsche aus.
Ich denke, ich sollte das näher ausführen, nicht dass Du meinst, ich beglückwünsche Dich dazu, dass Du Dir einen Tag herausgesucht und ihn unter der Überschrift „Mein Geburtstag“ zum Feiertag erklärt hast, vielmehr beglückwünsche ich zunächst mal mich, nämlich zu der Tatsache Deiner Existenz, welche sich sinnfällig darin ausdrückt, dass Du eines schönen Geburtstages als greifbares Phänomen in dieser Welt aufgetaucht bist.
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