Ich spüre einen inneren Widerstand schon beim Lesen, noch mehr habe ich diesen Widerstand beim Schreiben bemerkt. Etwas in mir sträubt sich, tiefer zu forschen, den Dingen auf den Grund zu gehen. Mit Mühe überwinde ich mich und durchsuche, auf mich selber wütend, alte Aktenordner nach Briefen und weiteren Dokumenten. Was den RING angeht, werde ich fündig. Ein ganzer Leitzordner ist ihm gewidmet. Dieser Ordner enthält Mitgliederlisten, Veranstaltungsprogramme, das RING-Konzept in verschiedenen Fassungen und mehr. An manche Mitglieder des RINGs, so stelle ich verblüfft fest, kann ich mich überhaupt nicht erinnern, obwohl ich ausweislich der Unterlagen mit ihnen in engem Kontakt stand. Ein weiterer Ordner fällt mir in die Hände. Er umfasst den Briefwechsel mit meiner Großmutter. Ausgerechnet ihr habe ich immer mal wieder über den RING und meine zweite Liebe, Melanie berichtet. Zu Mariella findet sich in den Briefen leider kein Sterbenswort.
Endlich entdecke ich noch ein altes Ringbuch, in das neben einigen Briefen maschinengeschriebene Tagebuchseiten eingelegt sind. Es sind schwer lesbare Durchschläge der Originalseiten. Die Originale selbst bleiben verschwunden. Leider berichtet das Tagebuch, eigentlich eher ein Kopfkissenbuch, nur über wenige konkrete Ereignisse. Die meisten Seiten enthalten Gedankensplitter, Erwägungen, gute Vorsätze. Die Seiten, auf denen ich die ersten Begegnungen mit Mariella notiert habe, sind erhalten. Etwa ein dreiviertel Jahr nach unserem Kennenlernen habe ich die ersten Monate unserer Bekanntschaft im Tagebuch festgehalten, wie ich mich jetzt erinnere, um mir Mariella aus dem Kopf zu schreiben, was mir nicht gelang. Mit dieser Erkenntnis gab ich damals das Schreiben über Mariella wieder auf. Immerhin habe ich nun genug Informationen, um Abfolge und Datierung einer ganzen Reihe von Ereignissen halbwegs abzusichern.
Ich hefte also die erste Niederschrift ab und starte einen zweiten Versuch. Dieses Mal werde ich mehr ins Detail gehen. Schließlich werde ich den Versuch machen zu bewerten, inwieweit ich diesen Erinnerungen trauen kann. Gestärkt durch eine halbe Tafel Lindt-Schokolade und eine Tasse Nescafé hole ich tief Luft und tauche wieder ab, hinunter in die Dunkelheit, bis ich einen hellen Punkt entdecke, der rasch größer wird, als ich mich nähere. Einen Moment lang stehe ich meinem vergangenen Ich gegenüber, das mich für einen Augenblick überrascht und verwirrt anblickt. Wenigstens kommt es mir so vor. Jetzt schaut W. auf seine Armbanduhr, dreht sich um und öffnet die Tür.
Zweiter Versuch: Die Realität des Irrealen
Erste Begegnung
Laut Tagebuch lerne ich Mariella Hohenfeld zu Beginn des Wintersemesters 1970/71 auf einer Versammlung des VCS Kaltstadt kennen:
Ich treffe mit Verspätung ein. Mir ist entgangen, dass der Sitzungsbeginn vorverlegt wurde. In Türnähe finde ich einen freien Stuhl. Mir schräg gegenüber sehe ich Klaus, Mitbegründer des RINGs, rechts neben ihm seine Freundin Katharina, auf diese folgend Melanie, meine Ex-Liebe, links neben Klaus eine blonde Frau, die mir unbekannt ist, eine attraktive Person, schlank, groß gewachsen. Sie passt nicht ins Bild, nicht in den biederen VCS. Klaus muss sie als Gast eingeladen haben. Sie folgt der Diskussion, deren roter Faden schwer auszumachen ist, aufmerksam, ohne Partei zu nehmen. Ich könnte sie auf mich aufmerksam machen, aber heute habe ich zur Diskussion nichts beizutragen. Das übliche Phrasendreschen langweilt mich. Außerdem bin ich müde. Katharina und Melanie sprechen in einer Sitzungspause über mich, lästern über meinen Bart und meine Pfeife, damit sähe ich doch richtig schnuckelig aus. Was sie weiterhin sagen, ist mir im Einzelnen nicht erinnerlich, es bringt mich jedenfalls zum Lachen. Damit Katharina und Melanie nicht auffällt, dass ich mitgehört habe, beuge ich mich vor und verberge mein Gesicht hinter den Teilnehmern, die vor mir sitzen. Noch vor Ende der Pause verlässt Melanie den Raum. Sie sieht mich dabei eigenartig an. Zur anschließenden Andacht in der Heimkapelle erscheint sie nicht. Mehrere Tage danach treffe ich sie an der Pforte, spreche sie wegen ihres vorzeitigen Aufbruchs an und rüge scherzhaft ihren Mangel an religiösem Eifer. Sie sieht mich daraufhin wieder merkwürdig an und bemerkt, sie sei nicht wegen der Andacht gegangen.
Nach der Pause fühle ich mich erfrischt. Die attraktive Unbekannte zieht jetzt meine ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich. Ist sie eine Kommilitonin von Klaus, also Studentin der Soziologie? Nach dem Ende der Andacht, auf dem Weg zur Kellerbar, erfahre ich, dass die Fremde Mariella Hohenfeld heißt. Sie studiert nicht Soziologie, sondern Germanistik und Geschichte und möchte dem RING beitreten. Dem VCS gehört sie bereits an und ist gerade aus ihrer Heimatstadt Maiburg zugezogen. In der Bar sitze ich zwischen der Neuen und Charlotte, unterhalte mich abwechselnd mit beiden, wobei mir scheint, dass ich Mariella nicht sonderlich beeindrucke. Sie lässt sich aber gern von mir nach Hause begleiten. Auf dem Heimweg nutze ich die Gelegenheit, der Auffassung von Klaus zu widersprechen, der RING werde daran zugrunde gehen, dass er Studentinnen als Vollmitglieder aufnehme. „Diese Torheit“, so Klaus, „ist prinzipiell schädlich und hat schon viele Gruppen zerstört“. Ich mache deutlich, dass ich die Auffassung von Klaus nicht teile: „Spannungen zwischen einzelnen Mitgliedern haben den Zusammenhalt der Gruppe nicht beeinträchtigt“. Ich bereue es sogleich, meine vergangene Beziehung zu Melanie nicht offengelegt zu haben. An Mariellas Haustür angekommen, plaudern wir noch ein paar Minuten. Zum Abschied sage ich: „Ich hoffe, dass du dich unserer Gruppe anschließt und an unserem nächsten Termin gleich teilnimmst. Wir wollen zusammen ins Kino gehen. Ich würde dich gerne abholen“. Mariella ist einverstanden.
Anmerkung:
So ist dieses Kennenlernen im Tagebuch beschrieben. Aber diese Beschreibung stimmt mit meiner Erinnerung nicht überein. Da stellt sich das erste Zusammentreffen ganz anders dar, als hätte ich für das Tagebuch aus meinem Erinnerungsfilm eine Szene herausgeschnitten, eine andere durch eine genehmere Version ersetzt. Ich beschließe aber, mich vorläufig an das Tagebuch zu halten.
Zweite Begegnung (Kinobesuch)
Die nächste Begegnung mit Mariella, die ich in meinem Tagebuch aufgezeichnet habe, ist der gemeinsame Kinobesuch der Nibelungen: Wir schauen uns den Film „Ein toller Käfer“ an und versammeln uns anschließend im Ratskeller. Ich bestelle nur ein Bier. Mariella, die ich unauffällig beobachte, entscheidet sich für Weißwürste. Nachdem ich sie bei der ersten Begegnung als „attraktiv“ befunden habe, stufe ich sie heute an Hand ihrer Gesprächsbeiträge als „intelligent“ ein. Für die Gruppe ist die Neue ein Gewinn. Erst weit nach Mitternacht brechen wir alle auf. Ich begleite Mariella wie vereinbart nach Hause.
Dritte Begegnung (am Südbad)
Das nächste Mal treffe ich Mariella zufällig und allein an. Auch dieses dritte Zusammentreffen ist im Tagebuch beschrieben:
Ich fahre auf meinem hellblauen Fahrrad die Kaiser-Wilhelm-Straße entlang, von einer abendlichen Mathematikvorlesung heimkehrend. Auf Mariella stoße ich an der Straßenbahnhaltestelle Südbad, wo sie in dichtem Gedränge und bei Nieselregen auf die Linie 7 wartet. Ich habe die Vorlesung dazu benutzt, über das weibliche Geschlecht zu grübeln und im Hörsaal unauffällig Ausschau gehalten, ob ich vielleicht eine hübsche Frau entdecke. Als ich nach der Vorlesung mein Fahrrad aufschließe, fällt mein Blick auf ein blondes Mädchen, das im Begriff ist, sich für die Heimfahrt auf dem Motorrad ihres Freundes vorzubereiten. Die junge Frau ist hübsch anzusehen. Sie ist ganz in enganliegendes Leder gekleidet, setzt umständlich ihren mit Blümchen dekorativ bemalten Helm auf und verbirgt ihre langen Haare unter dem Helm. Mariellas Anblick erinnert mich an das fesche Motorradmädchen. Auch sie hat blonde Haare, die sie offen trägt, und heute erscheint sie mir hübsch. Über die Qualität „hübsch“ lege ich mir kritisch Rechenschaft ab, während ich mit ihr spreche, und komme zu dem Schluss, dass neben intelligent und attraktiv auch „hübsch“ eine passende Bezeichnung ist. Diese Feststellung beruhigt mich, weil sie mir bewusstmacht, dass sich in meiner Umgebung durchaus interessante Frauen finden. Aber wie viele sind noch nicht vergeben? Dieser Gedanke dämpft meine Euphorie. Jedenfalls muss ich die Augen offen halten, denn auszuschließen ist es nicht, dass ich über kurz oder lang einer zum Verlieben begegnen werde. Oder begegne ich ihr gerade? Mariella scheint erfreut, mich zu treffen. Ihr Lächeln verrät sie. Wir gehen zu Fuß zu ihrer Wohnung, missachten den Regen, der stärker geworden ist. Mein Fahrrad schiebe ich neben mir her. Einen Schirm haben wir nicht, und so werden wir beide ganz schön nass.
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