Mein Führer entpuppt sich als Sohn der ehemaligen Nibelungen Katharina und Klaus. Ich bitte ihn, Grüße an die Eltern auszurichten. Der Vater, Klaus, Mitbegründer des RINGs lebt immer noch in Kaltstadt, ebenso wie die Mutter. Mariella Hohenfeld, meine dritte Liebe, ist Inhaberin eines Lehrstuhls für neuere deutsche Literaturwissenschaft. Sie wohnt mit ihrem Mann in der Nähe des Schillerparks. Melanie Malchareck, meine zweite Liebe, ist nach dem Studium als Gymnasiallehrerin nach Weilburg nicht weit von Kaltstadt gezogen. Sie unterrichtet Deutsch und Geschichte. Ich könnte Melanie oder Mariella anrufen, aber ich bin meiner Erinnerungen und meiner Absichten zu unsicher. Ich bin nicht einmal sicher, dass ich die beiden Frauen wiedererkennen würde.
Das Kulturprogramm, das ich nebenbei absolviere, ist hochklassig. Höhepunkte sind „Hänsel und Gretel“ von Humperdinck und die „Sechste“ von Mahler. Ansonsten bleibt der Besuch in Kaltstadt unergiebig, verlorene Zeit. Die Orte, die mir in meiner Jugend etwas bedeutet haben, lassen mich –vielleicht mit Ausnahme des Wohnheims- kalt. Erinnerungen lösen sie nicht aus, aber wenigstens hören meine Albträume auf.
In Junghafen war es mir nicht anders ergangen. Die Orte meiner Jugend waren wiedererkennbar, auch wenn mir einige Örtlichkeiten viel kleiner vorkamen als damals, zum Beispiel der See, an dem ich im Alter von zehn Jahren meine erste Liebe, Eva Rothfeld entdeckt hatte. Auch mit Junghafen verbindet mich nichts mehr.
Wieder zu Hause in Victoria, stürze ich mich in die Arbeit, bevor das neue Semester beginnt, lasse Kaltstadt und RING zunächst hinter mir, aber die Vergangenheit lässt sich nicht mehr abschütteln. Die Gesichter der Personen, die meine Jugend geprägt haben, drängen vor mein inneres Auge, werden mit jedem Tag schärfer und lebendiger. Das unförmige Etwas im dunklen See meines Halbbewusstseins bewegt sich stärker, will an die Oberfläche, will greifbare Erinnerung werden.
In meiner freien Zeit suche ich nach alten Tagebüchern. Mir fällt schließlich ein, dass ich die meisten vor vielen Jahren vernichtet habe. Langsam reift der Entschluss, einige Jugenderlebnisse nochmals aufzuschreiben. Ich werde mit Erinnerungen an Mariella anfangen, so unvollständig diese auch sind. Diese dritte, so glaube ich, ist die einfachste meiner Liebesgeschichten. Einzelne Ereignisse dieser Geschichte kann ich wie einen Film vor meinem inneren Auge abspulen.
Ich versetze mich zurück in das Jahr 1970, das Jahr, in dem ich Mariella kennenlernte, und erinnere mich unversehens an eine Urlaubsfahrt des RINGs. Etwa ein Dutzend Nibelungen, darunter auch ich, fuhren im September gemeinsam in die Ferien mit dem Ziel Toskana.
Schon am ersten Reisetag war für mich und meine beiden Beifahrerinnen, Doris und Marlene, die Fahrt zu Ende. Sonntags um die Mittagszeit bei strahlendem Sonnenschein und auf fast leerer Autobahn hatte ich bei Tempo 130 unverschuldet einen schweren Unfall. Während ich einen PKW gerade überholte, wechselte dieser unvermittelt auf meine, die linke Spur, um seinerseits den Wagen vor uns zu überholen. Nach links auf den Grünstreifen ausweichend kollidierte ich mit der Leitplanke und verlor die Kontrolle über das Fahrzeug. Der Wagen, den meine Eltern mir schweren Herzens ausgeliehen hatten, und der vor der Reise noch rasch mit Sicherheitsgurten ausgestattet worden war, überschlug sich, ohne andere Fahrzeuge zu touchieren, und kam auf einer tiefer gelegenen Wiese, das Dach im Erdboden halb vergraben, zum Stehen. Das Dach war stark eingedrückt. Wir drei Insassen trugen nur leichte Verletzungen davon. Die beiden anderen Autos mit RING-Mitgliedern, ein Kleinbus und ein PKW, fuhren ein gutes Stück hinter uns und wären beinahe an der Unfallstelle vorbeigefahren, ohne uns zu bemerken.
Fast zufällig bemerken die anderen Nibelungen die Unfallstelle auf. Sie halten an, stehen dann schockiert in einer Reihe am äußeren Rand des Standstreifens und schauen herunter auf die tiefer liegende Wiese mit dem Wrack. Mariella steht mitten in der Reihe. Ihr Blick ist auf mich gerichtet. Sie schaut halb ungläubig, halb entsetzt. Auch heute noch steht mir ihr Gesicht deutlich vor Augen.
Ich halte inne. Dieses Bild hat einen Fehler. Zur Zeit des Unfalls lebte Mariella in Maiburg, wusste noch nichts vom RING. Wir lernten uns erst im November, zwei Monate nach dem Unfall, kennen. Trotzdem, auch jetzt, da ich mir darüber im Klaren bin, dass das Bild falsch ist, sehe ich die Szene ganz deutlich vor mir. Es gelingt mir nicht, Mariella aus dem Bild zu löschen. Wie weit, so frage ich mich, kann ich meinem Gedächtnis trauen? Ich nehme mir vor, fragwürdige Erinnerungen nach Möglichkeit auszusortieren. Mehr fällt mir im Augenblick nicht ein, und so tauche ich unverzagt wieder in das Jahr 1970 ein, dieses Mal direkt zu dem Abend, an dem ich Mariella kennenlernte.
Erster Versuch: Beziehungsprotokoll
Ich lerne Mariella auf einer Sitzung des VCS im Dietrich-Bonhoeffer-Heim kennen. Sie ist Mitglied im VCS und gerade von Maiburg, ihrer Heimatstadt, nach Kaltstadt umgezogen, um hier ihr Studium fortzusetzen. Über den VCS hat sie vom RING erfahren, und Klaus Eisenschroth hat sie gleich als Mitglied für den RING angeworben. Nach dem Ende der Sitzung versammeln sich die Teilnehmer in der Kellerbar, um dort den Abend ausklingen zu lassen. Mariella und ich kommen ins Gespräch. Ich bin von ihr bezaubert und begleite sie am späten Abend zu Fuß nach Hause. Sie wohnt zur Untermiete bei einer alleinstehenden älteren Dame. Schon auf dem Rückweg ins Heim kommen mir Zweifel. Wie wird Mariella bei unserer nächsten Begegnung auf mich wirken? Wird der Zauber verflogen sein? Es wäre nicht das erste Mal, dass mir so etwas widerfährt.
Bis zum Jahresende begegnen wir uns noch mehrfach auf RING-Veranstaltungen und auch im kleineren Kreis. Jedes Mal begleite ich sie hinterher nach Hause. In den Weihnachtsferien, die ich im Elternhaus in Perzhaag verbringe, bin ich soweit, dass ich mir Mariella als feste Freundin vorstellen kann. So äußere ich mich jedenfalls gegenüber meiner Mutter. Noch bin ich aber nicht bereit für eine neue Beziehung, halte mich bedeckt, beobachte.
Im Fasching lade ich Mariella zweimal zu Kostümbällen ein. Schon auf dem ersten Ball wird mir klar, dass ich in sie verliebt bin aller Vorsicht zum Trotz. Zu vorgerückter Stunde schlägt Mariella zunächst Klaus und dann auch mir vor, an einer Party teilzunehmen, die sie für Ostern in ihrem Elternhaus in Maiburg plant. Ich bin mir nicht sicher, ob die vage gehaltene Einladung ernst gemeint ist. Brieflich bitte ich Mariella in den Osterferien um nähere Auskunft. Mein Schreiben bleibt unbeantwortet, woraus ich schließe, dass die Einladung hinfällig ist. Umso größer ist meine Überraschung, als mich am Ostermontagabend Klaus aus Maiburg anruft und wissen will, wo ich denn bleibe. Als ich erkläre, dass ich mich nicht eingeladen gefühlt habe, richtet Klaus mir aus, natürlich sei ich eingeladen, Mariella habe fest mit mir gerechnet. Für das Missverständnis entschuldigt sie sich in den darauffolgenden Tagen mit einem Brief. Sie habe es in der vorösterlichen Hektik einfach verpasst, mein Schreiben zu beantworten. Ich sei hoffentlich nicht verärgert. Sie freue sich jedenfalls auf ein Wiedersehen in Kaltstadt.
Zurück in Kaltstadt lade ich sie zum Essen ein. Es wird ein sehr angenehmer, ja fast romantischer Abend. Auf dem Nachhauseweg zu Mariellas Wohnung halten wir einander an den Händen. Ich bin darauf eingestellt, sie zum Abschied zu küssen. Mariella verschwindet jedoch so eilig im Hausflur und lässt die Haustüre so rasch ins Schloss fallen, dass ich sie nicht einmal umarmen kann.
Während der nächsten Monate verabreden wir uns häufiger, wahren aber eine vorsichtige Distanz. Es bleibt beim Händchenhalten. Diese im Rückblick trotzdem schöne Zeit ist nur dadurch getrübt, dass Mariella unseren freundschaftlichen Kontakt vor den anderen RING-Mitgliedern verborgen halten will. Ich finde nicht heraus, warum.
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