Offenbar war sich auch Russland der Bedrohlichkeit der Situation bewusst. Um 7.22 Uhr meldete der SRF 42:
Die Karten um den internationalen Einfluss werden im Hinblick auf die Ukraine derzeit neu gemischt. Russland hat Kampfflugzeuge an der westlichen Grenze des Landes in Alarmbereitschaft versetzt.
Die Kampfbomber werden zuerst zum Einsatz kommen, sie stellen jene Machtmittel dar, die – neben Raketen und Drohnen – am Schnellsten an einem möglichen Einsatzort sein können.
Um 9.25 meldete der Spiegel 43: Auf der Halbinsel Krim im Süden der Ukraine verschärft sich der Konflikt zwischen Russen und Tataren. Bewaffnete Männer sollen die Kontrolle über regionale Regierungsgebäude und das Parlament übernommen haben.
Gleiches Recht für alle, möchte man meinen. Eroberst Du „mein” Parlament, erobere ich „dein” Parlament. Halten wir jedoch eins fest: Am frühen Morgen des 27. Februar 2014 stehen die Zeichen auf „Krieg“.
Das dürfte auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel erfahren haben. Um 13.11 Uhr meldet wiederum der Spiegel im Live-Ticker 44: Arsenij Jazenjuk, ukrainischer Übergangspremierminister, spricht nun vor dem Parlament in Kiew. Er sagt, dass die Ukraine ein Teil der EU werden wird.
Man fragt sich unwillkürlich, wie er darauf kommt? Müsste man dazu nicht ein paar Verhandlungen führen – und auch die EU mal fragen, ob die die Ukraine überhaupt aufnehmen möchten? Sollte man nicht erst mal die Bürger der Ukraine fragen, ob sie das wollen? Oder … die der EU? Und fragt sich keiner, wie das auf Russland wirkt, wenn die Nato – wider alle Versprechungen – noch näher an die russische Grenze heranrückt.
Weiter im Liveticker konnte man Zeuge einer dramatischen Entwicklung werden, die jeden Diplomaten in helle Aufruhe versetzen sollte: Es wird ein Krieg angedeutet, ein Krieg zwischen der Putschregierung der Ukraine und Russland.
Um 13.20 Uhr wird es deutlicher, wohin die Reise geht: Jazenjuk sagt, dass die Zukunft der Ukraine in Europa liegt. An Russland gewandt sagt er: „Kämpft nicht mit uns, wir sind Freunde!”
Stand der Dinge um 13.20 Uhr: Den Putschisten ist klar, dass es zu einem Krieg kommen könnte. Wenn es ihnen klar ist – jenen, die direkt vor Ort agieren und genau wissen, welche Reaktionen ihr Verhalten bei ihren Nachbarn auslösen kann, dann sollten das die tausend Mitarbeiter in deutschen Nachrichtendiensten, Geheimdiensten und auswärtigen Ämtern es erst recht wissen und umgehend die deutsche Kanzlerin über die Entwicklung informieren.
Die Kanzlerin reagiert auch auf die Entwicklung um 13.49 Uhr: Deutliche Worte von der Bundeskanzlerin: Europa stehe der Ukraine bei, „wenn es darum geht, Recht und Freiheit zu schützen”, sagte Angela Merkel am Donnerstag in einer Rede in London.
Allen Beteiligten war klar: Es geht nicht darum, die Ukraine zu schützen. Die befand sich in einem „Chaos“, das manchen so viel Angst machte, dass sie jüdische Bürger aufforderten, das Land zu verlassen.
Es ging darum, eine Putschregierung zu schützen. Mehr nicht.
Allen hätte klar sein müssen, dass man nun viel Besonnenheit und Zurückhaltung brauchen würde, um eine Chance auf Frieden zu haben, eine Chance, die von Frau Merkel um 13.49 vertan wurde.
Natürlich wurde diese Botschaft auch von den Putschisten in der Ukraine wahrgenommen: „führt Krieg mit Russland, wir sind bei euch!“. Tausende von Menschen ließen ihr Leben aufgrund dieses Versprechens.
Man sollte auch davon ausgehen können, dass Angela Merkel gewusst hat, was sie sagte, denn um 13.52 spricht sie dann das erste Mal von Krieg. In ihrer Rede vor dem britischen Parlament sagte Merkel mit Blick auf die Ereignisse in Russland und der Ukraine, 100 Jahre nach dem Ersten und 75 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg sei ein Krieg mitten in Europa nicht mehr denkbar.
Die Worte scheinen weise gewählt zu sein: Krieg ist nicht mehr denkbar, so meint sie. Nicht mehr denkbar, aber machbar – zur Rettung der Putschregierung eines Pleitelandes?
Schon um 12.40 Uhr verlinkte der Spiegel zu einem Youtube-Video 45, dass zeigt, wie russische Panzer von ukrainischen Polizisten aufgehalten werden. Die Panzer, die sich nach entsprechenden Truppenabkommen legal im Land unterwegs sind, kehrten zurück.
Wir erinnern uns: Ähnliche Garantien wie jetzt die deutsche Bundeskanzlerin hatten England und Frankreich 1939 für Polen abgegeben. Wie der Spiegel zuvor berichtete, darf Russland die Ukraine nicht verlieren, weil ihre Verteidigungsfähigkeit dann nicht mehr gegeben wäre. Zugleich hinge die Schwarzmeerflotte in der Luft.
Zudem: Erinnern wir uns an pikante Aspekte der Putschisten-Armee in Kiew. Völlig unklar war zum damaligen Zeitpunkt die Rolle der Rechtsradikalen in der neuen Regierung der Ukraine, nur Juden machten sich große Sorgen.
Um 14.14 zitiert der Liveticker des „Spiegel“ den Nato-Generalsekretär: Rasmussen machte außerdem deutlich, dass die Ukraine „keine spezifische Unterstützung” durch die Nato erbeten habe. Russland habe zudem versichert, die Militärmanöver stünden in keinem Zusammenhang mit der Lage in der Ukraine.
Wieso kommt der eigentlich auf die Idee, dass die Bedrohungsphantasien der Putschregierung die Nato in irgendeiner Weise irgendetwas angingen? Wieso muss man besonders erwähnen, dass die keine Nato-Truppen angefordert haben?
Um 14.42 verstärkten sich die Drohungen gegen Russland: Schon damals konnte jeder, der des Lesens mächtig war, erfahren, wie gering die Bedrohung durch Russland wirklich war – einstige Feinde der Russen gaben persönlich öffentlich Zeugnis davon ab:
Der georgische Verteidigungsminister Irakli Alasania glaubt nicht an einen Militäreinsatz Russlands gegen die Ukraine. Zwar sei es besorgniserregend, dass der russische Präsident Putin die Truppen im Westen des Landes in Alarmbereitschaft versetzt habe, der georgisch-russische Krieg im Jahr 2008 habe gezeigt, dass Russland militärisch nicht so stark sei wie vielfach angenommen. „Das wissen sie – und sie wissen, dass die Nato Bescheid weiß.”
Russland – so die Botschaft Ende Februar 2014 – ist doch viel zu schwach für einen Krieg. Und wieso flocht man die Nato immer wieder ein – die Ukraine war doch gar kein Bündnisland?
Nun – dieser kurze Moment der Weltgeschichte ist an vielen unbemerkt vorbeigegangen: Ich möchte ihn trotzdem gerne festhalten.
Für uns Bürger ist im Nachhinein heute nur eins wichtig: Unsere Bundeskanzlerin hat am 27.2.2014 um 13.49 eigenmächtig und ohne uns zu fragen ein Beistandsangebot für die Ukraine abgegeben … für den Fall, dass es dann doch zu dem „undenkbaren” Krieg kommen sollte, den angeblich keiner wollte, aber über den damals alle redeten.
War die Aufgabe der deutschen Bundeskanzlerin nicht, den Schaden vom Volke abzuwenden und den Nutzen zu mehren? Sollte man nicht erst mal Bundesrat, Bundestag, Parteien und Verbände befragen, bevor man dem britischen Bündnispartner weitreichende Versprechungen hinsichtlich eines Drittlandes gibt?
Und wir sind wieder mal dabei, bei diesem undenkbaren Krieg, den keiner wollte und der so schnell kam. So schnell kann das gehen, wenn man drauf und dran ist, „Recht und Freiheit” zu schützen … wobei die Rechte der neuen (verbotenen) ukrainischen Opposition sowie die der Juden und übrigen Opfer der nun in der neuen Regierung vertretenen rechtsradikalen Elemente wohl weniger schwer wiegen.
Wir sollten uns in Erinnerung halten, wie sehr an diesem Tag alle Prinzipien von „Nichteinmischung in innere Angelegenheiten“, von „friedenssichernden Maßnahmen“ oder „Völkerverständigung“ über Bord geworfen worden sind, damit wir die richtigen Fragen stellen können:
„Wie konnte es soweit kommen?“.
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