Und auf einmal sollte das alles aus und vorbei sein? Sie fühlte sich wie eine Gefangene. Treffen mit ihren Freundinnen waren nur noch im Hinterhof möglich und das Leben draußen fand ohne sie statt.
Ihre Verbindung nach draußen war vor allem Francesco Scarpellino, der tagsüber bei ihnen arbeitete, aber mit dem durfte sie nicht mehr allein sein Manchmal dachte sie an die kleine Katze, mit der er sie getröstet hatte. Sie war längst auf und davon und strich durch die Straßen, die Artemisia so gut wie verboten waren. Dass es anderen Mädchen und Frauen genauso ging, war kein Trost.
Andere Informanten waren die Waschfrau, die einmal die Woche, und der Barbier Bernardino, der regelmäßig zu ihnen ins Haus kam, allen die Haare schnitt (ihrem Vater auch den Bart) und die Zähne reinigte. Der Barbier war eine wandelnde Zeitung, voller neuester Nachrichten und Gerüchte. Außerdem diente er Orazio als Modell und Artemisia bestach ihn mit einem Glas Wein oder einem Stück Kuchen, ihr noch etwas mehr von da draußen zu erzählen. Sie sorgte dafür, dass immer einer ihrer kleinen Brüder dabei war, das war das Mindeste. Auch Marco war jetzt wieder zu Hause.
„Die Keuschheit einer Frau und erst recht einer Jungfrau ist nicht allein ihre Sache“, predigte Tante Lucrezia. „Mit ihr steht und fällt die Familienehre, das muss dir klar sein! Wenn du sie preisgibst, werden sie mit den Fingern auf euch zeigen, nicht nur auf dich, sondern vor allem auf deinen armen Vater!“
„Ich weiß“, sagte Artemisia müde.
Ich weiß es, dachte sie. Jeder weiß das. Aber ich kann es nicht mehr hören.
„Deine Jungfräulichkeit ist dein einziges Vermögen!“, fuhr ihre Tante erbarmungslos fort. „Hüte sie wie einen Schatz, mein Kind! Hüte sie, sonst ist dein Vater entehrt und du wirst als Bettlerin dastehen und in der Gosse enden! Schenke sie deinem Ehemann, sie ist Teil deiner Mitgift!“
„Sie ist meine einzige Mitgift, wie’s scheint!“
Immerhin scheint sie mich nicht ins Kloster schicken zu wollen, dachte Artemisia.
„Wie redest du?“
„Ich werde sowieso Malerin!“, verkündete Artemisia trotzig.
Lucrezia bekreuzigte sich.
„Du ...“, sagte sie. „Ihr alle! Eine Plage Gottes! Und deinen Vater nehme ich nicht aus!“
Das Fass zum Überlaufen brachte schließlich Orazios Vorschlag, ihm Modell zu stehen. Lucrezia verschwand, wie sie gekommen war, von einem Tag auf den anderen, nach einem Streit mit Orazio, der das Haus in seinen Grundfesten beben gemacht hatte.
Alle atmeten auf, selbst das Haus.
8. Wie Artemisia ein Selbstporträt zeichnete
Bald darauf ging Orazio daran, Artemisias Bruder Cecco anzulernen.
Artemisia sah ihn und Scarpellino Farben reiben und mischen, Entwürfe durchpausen und Zeichnungen und Bilder abzeichnen. Artemisia war fassungslos. Ihn lernte er an und nicht sie ! Vier Jahre war er jünger als sie und durfte all das tun, was sie gern getan hätte!
Es tat ihr weh, das zu sehen, während sie putzen, fegen, schrubben und kochen musste.
„Warum er und nicht ich?“, wollte sie wissen. Bei Tisch. Wie ihre Mutter früher.
Orazio starrte sie an, schälte eine Zwiebel und schien nicht zu begreifen.
„Wenn du mich schon wie eine Gefangene hältst“, schrie Artemisia, „dann bring mir wenigstens das Malen bei!“
„Malen ist Männersache!“, schnappte Orazio und biss in die Zwiebel. „Du kannst es vielleicht lernen, aber anfangen kannst du damit im Zweifel nichts!“
„Ich kann es ganz bestimmt lernen!“
Und wenn du es mir nicht beibringst, dachte sie, muss ich es mir eben selber beibringen!
Das Zeichnen ging ihr von der Hand, als seien ihre Hände und Finger zu nichts anderem gemacht. Papier und Holzkohlestifte zweigte sie vom Vorrat ihres Vaters ab. Ein paar Rosenkränze, die ihr der Pater im Beichtstuhl auferlegte, machten die Sache jeweils wieder gut.
Sie zeichnete, wenn Orazio nicht zu Hause war, die Figuren auf den Bildern ihres Vaters ab: Johannes der Täufer und Christus (im Jordan, halb auf einem Stein kniend, halb im Wasser stehend), David (das Schwert erhoben, im Begriff, dem schon gefällten, am Boden liegenden Goliath den Kopf abzuschlagen), den Erzengel Michael (gleichfalls mit erhobenem Schwert, unter ihm der nackte jungenhafte Teufel von hinten, für den Scarpellino Modell gestanden hatte). Sie zeichnete mit fliegenden Fingern und arbeitete die Zeichnungen in ihrem Zimmer aus.
Außerdem porträtierte sie ein paar Mal ihre Brüder Giulio und Marco. Das kostete sie einige quattrini , die sie vom Haushaltsgeld abzweigte, weil die kleinen Gauner mitgekriegt hatten, dass Modelle bezahlt wurden. Die Zeichnungen gerieten verblüffend ähnlich, aber sie zeigte sie ihrem Vater nicht. Sie wollte erst richtig gut werden. Das kostete sie weitere quattrini , zu dem einzigen Zweck abgezweigt, dass ihre Modelle den Mund hielten.
Mit Cecco machte sie ein Geschäft.
Der Rotzlöffel hatte es sich in den Kopf gesetzt, sie zu porträtieren. Sie weigerte sich, er ließ nicht locker. Schließlich fiel ihr ein, wie sie ihn überlisten könnte.
„Wenn ich mich von dir zeichnen lasse“, sagte sie mit der Überlegenheit der Älteren, „musst du dich auch von mir zeichnen lassen.“
„Ich soll mich von einer Frau zeichnen lassen?“, schrie Cecco empört. „Wo Frauen einfach nicht malen und zeichnen können!“
Das hatte Orazio zwar nicht gesagt, aber es passte Cecco anscheinend so in den Kram.
„Du und ein Mann!“, sagte Artemisia. „Dann halt nicht.“
Cecco starrte sie wütend an, während sie sich an Näharbeiten versuchte, die ihr im Gegensatz zum Zeichnen leider überhaupt nicht von der Hand gingen.
Ich bin zum Malen geboren, redete sie sich ein. Alles andere zählt nicht.
„Willst du Geld?“, fragte Cecco.
„Ich will dich zeichnen. Außerdem hast du kein Geld.“
„Ich könnte etwas auftreiben ...“, sagte er zögernd.
„Stehlen, meinst du? Kommt nicht in Frage.“
Er stampfte wütend mit dem Fuß auf und lief zur Küche hinaus. Artemisia stach sich in den Finger und schmiss die Hose, die sie zu stopfen versuchte, auf den Küchentisch und das Nähzeug dazu. Während sie das Blut aus dem Finger lutschte, kam Cecco zurück und baute sich vor ihr auf.
„Also gut“, sagte er. „Aber ich male dich zuerst!“
„Oh nein. So haben wir nicht gewettet.“
„Ehrenwort“, sagte er. „Du darfst mich dann auch malen.“
Artemisia gab nach.
Am nächsten Tag drängte Cecco sie, kaum war ihr Vater aus dem Haus, zur Tat. Im Malzimmer setzte er sich in Orazios Lehnstuhl, nahm sein Zeichenbrett und zeichnete sie, auf dem Stuhl sitzend, der dem Lehnstuhl gegenüberstand. Er krauste dabei die Stirn und rang sich anscheinend jeden Strich ab.
„Wie lange soll das denn noch gehen?“, fragte sie.
Er sah sie über das Brett hinweg an.
„Für heute ist es vielleicht genug.“
„Gib mir bitte dein Brett“, sagte sie. „Du weißt, dass ich keins hab.“
Er nahm das Papier vom Brett und hielt ihr das Brett hin. Als sie danach greifen wollte, zog er es wieder zurück.
„Du hast dein Ehrenwort gegeben, verdammt!“, schrie sie wütend.
Er gab ihr das Brett widerstrebend. Und auch ein Blatt Papier. Blieb aber in Orazios Lehnstuhl sitzen.
Artemisia skizzierte ihn mit schnellen Strichen. Sie wusste inzwischen schon so ziemlich, wie es ging. Man muss sich aufs Wesentliche konzentrieren. Ein Satz ihres Vaters, den sie aufgeschnappt hatte. Die Augen zum Beispiel waren wesentlich.
Sie brauchte nur wenig nachzuarbeiten. Cecco dagegen bestand auf zwei weiteren Sitzungen. Er schien nicht zufrieden zu sein.
„Du hältst dich nicht ruhig genug!“, behauptete er.
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