Dann ging sie zur Staffelei und betrachtete jedes Detail des noch unfertigen Bildes, das offensichtlich wieder eine Madonna mit Kind werden sollte. Sie nahm den Pinsel in die Hand und fuhr die Konturen nach, als wolle sie sie abstauben.
So muss Malen gehen, dachte sie.
Neben dem Stapel mit den Entwürfen lag ein Stapel unbenutztes Papier. Artemisia nahm das oberste Blatt und suchte ein Stück Kreide. Sie fand einen Holzkohlestift, legte das Blatt auf das Zeichenbrett, das sie an die Wand gelehnt fand, und setzte sich in den Lehnstuhl neben dem Fenster.
Sie überlegte, was sie zeichnen sollte. Orazios Drohung mit dem Fegefeuer schreckte sie schon lange nicht mehr.
Kurz entschlossen zeichnete sie das Schafott vor der Engelsburg, Beatrice Cenci, den Kopf auf dem Richtblock und daneben den Scharfrichter mit dem heruntersausenden Beil.
Prudenzia und Scarpellino kamen fast gleichzeitig wieder nach Hause. Scarpellino brachte Neuigkeiten. Er hatte den Umweg zum Farbenhändler gemacht, wo es nur ein Gesprächsthema gegeben hatte. Und Scarpellino hatte erfahren, dass auch Caravaggio, dessen Freund, der Architekt Onorio Longhi und ein Maler, dessen Namen Scarpellino nicht mehr wusste, im Gefängnis waren, allerdings im Tor di Nona .
Und der Hund?, dachte Artemisia. Wer sorgt für Caravaggios schwarzen Hund? Wer gibt ihm zu fressen und geht mit ihm auf die Straße, damit er nicht die Wohnung vollkackt und vollpinkelt?
Warum sie alle festgenommen worden waren – darüber war wild spekuliert worden beim Farbenhändler.
„Longhi“, seufzte Prudenzia. „Der ist genauso schlimm wie Caravaggio! Und der musste Orazio mit ihm zusammenbringen!“
„Dann ist er doch nicht unschuldig?“, fragte Artemisia.
„So was darfst du nicht mal denken!“, fuhr Prudenzia sie an.
„Was hat er denn gesagt, als du ihn besucht hast?“
„Er ist dem Richter vorgeführt worden. Aber er hat nicht rausgekriegt, was sie ihm überhaupt vorwerfen. Irgendwas mit Papieren, sagt er.“
„Hab ich doch gesagt!“
„Und gefragt haben sie ihn, ob er schreiben kann.“
„Ob er schreiben kann?“
„Ja.“
Und Prudenzia sah aus, als hielte sie das für sehr bedenklich.
Am nächsten Tag ging Scarpellino wieder zum Farbenhändler und als er zurückkam, wollte er Artemisia nichts erzählen und auch ihrer Großmutter nicht, die vorbeigekommen war, weil sie es vor Neugier und Sorge nicht mehr aushielt. Aber sein schiefes Gesicht mit den großen Ohren strahlte vor Stolz.
Schließlich kam auch Prudenzia.
Sie stellte ihren Einkaufskorb auf den Küchentisch und sagte: „Nichts. Sie haben ihn nicht entlassen. Er sagt, es sei ihm ein Rätsel, weshalb er und die andern verhaftet worden sind.“
„Der Scarpellino weiß was“, sagte Artemisia.
„Scarpellino!“ rief Prudenzia ins Treppenhaus.
Prompt hörten sie seine Schritte auf der Treppe. Kaum hatte er die Küche betreten, stellte er sich wie ein Schauspieler in Positur und deklamierte:
„ Wisch dir den Hintern ab, mit deinen Zeichnungen und Entwürfen! Stopf sie in die Fotze von Maos Frau, sodass er sie mit seinem Mauleselschwanz nicht mehr ficken kann! “
Prudenzia sprang auf und klebte ihm eine, so dass sein Gesicht noch etwas schiefer zu werden schien.
Artemisia verstand nichts.
„Hast du den Verstand verloren?“, herrschte Prudenzia den verdutzten Jungen an. „Was fällt dir ein?“
„Das ist aus einem Gedicht! Hab ich extra auswendig gelernt!“
„Aus was für einem Gedicht?“
„Sie sagen, da würden schon seit Wochen so schmutzige Gedichte weitergegeben werden ...“ stammelte Scarpellino, „einer schreibt sie vom andern ab, und manche können sie sogar auswendig ...“
„Wie du.“
„Ich hab’s nur für Euch auswendig gelernt, weil ich keine Abschrift kriegen konnte. Es sind Gedichte, die Messer Baglione und seinen Schutzengel Mao, wie sie den Messer Salini nennen, beleidigen!“
„Baglione? Und was hat mein Mann damit zu tun? Baglione ist sein Freund!“
„Sie sagen, irgendwelche Leute müssen die Gedichte ja geschrieben haben!“
„Sie? Wer sind sie ?“
„Die Maler beim Farbenhändler. Sie haben alle durcheinander geschrien, zwei haben sich sogar geprügelt, die einen meinen so und die andern so ... Und ich dachte, Ihr lobt mich, wenn ich ...“
„Du hast eine Ohrfeige gut, Scarpellino! Bloß schade, dass du keine Abschrift kriegen konntest.“
„Das ist allerdings nicht wirklich ein gutes Gedicht“, sagte die Großmutter düster.
Prudenzia sah sie an, als erkenne sie sie nicht wieder.
Hinter ihrem Rücken bildete Scarpellino mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand einen Kreis und stieß mit dem Mittelfinger der rechten Hand hinein.
Jetzt verstand Artemisia.
„Der Richter hat was von Gedichten gesagt“, sagte Prudenzia, „Gedichten gegen Baglione. Orazio hatte keine Ahnung, dass es solche Gedichte gibt. Aber sie sind trotzdem wie wild hinter seiner Handschrift her.“
Sie fing an, den Korb auszupacken.
„Du weißt, dass seit neuestem Galeere auf so was steht?!“, fragte ihre Mutter.
„Galeere! Gütiger Himmel! Kein Wunder, dass er Angst hat! Und ich erst!“
Galeere, dachte Artemisia. Rudersklaven unter Deck! Sie bekam einen Schreck. Wenn der Richter ihm nun nicht glaubte? Sie wusste, wie es auf den Galeeren zuging, alle wussten das! Die Sklaven waren angekettet und ruderten mit bloßem Oberkörper, der Schweiß floss ihnen nur so über die Körper und alles entzündete sich und sie bekamen Blasen an den Händen und wenn sie schlapp machten, stand schon ein Aufseher mit der Peitsche in der Hand da und schlug zu und es gab einen blutigen Striemen über den Rücken oder auch mehrere, je nachdem wie oft der Sklave schlapp machte. Und wenn er tot war, wurde er einfach ins Meer gekippt und war Futter für die Haie.
„Wir können aber nichts anderes tun als warten“, schloss Prudenzia.
Mit jedem Tag, den sie warteten, wuchs Artemisias Angst.
„Aber benimm dich anständig!“, sagte Prudenzia.
Artemisia hatte solange gebettelt, bis Prudenzia sie schließlich, am achten Tag nach Orazios Verhaftung, mitgenommen hatte.
Sie standen vor dem Gefängnis Corte Savella in der Nähe der Piazza Navona. Artemisia nickte. Sie meldeten sich am Tor bei der Wache und wurden hineingelassen. Der Posten begrüßte Prudenzia schon wie eine alte Bekannte und Prudenzia schaute grimmig und fasste Artemisias Hand fester.
Sie gingen den Gang entlang. Die Tür zum Besuchszimmer stand offen. Drinnen saß Orazio auf einem der Stühle. Neben der Tür stand ein Wachposten.
Als Orazio Artemisia sah, lief er rot an, sprang auf und rief: „Was soll das denn?“
„Artemisia wollte gern das Gefängnis sehn, in dem Beatrice Cenci war“, sagte Prudenzia ruhig.
„Wir sind hier im Männertrakt!“
„Und ich hab dir was mitgebracht!“, sagte Artemisia feierlich und reichte ihm ihre Zeichnung, die sie aufgerollt in der Hand hielt.
Orazio riss ihr die Zeichnung aus der Hand, rollte sie auf und sah, was seine Tochter gezeichnet hatte: Beatrice Cenci auf dem Schafott und den Scharfrichter mit dem Beil.
„Du hast ja nichts Schlimmes gemacht ...“, sagte sie.
„Ich hab gar nichts gemacht!!“, brüllte Orazio.
Er zerriss die Zeichnung, knüllte die Fetzen zusammen und warf sie auf den Boden.
Artemisia fing an zu weinen.
„Raus! Raus vor die Tür! Aber fix!“
Artemisia sah ihn an.
Warum hat er das getan?, dachte sie. Warum hat er mein Bild weggeschmissen! Dann ging sie hinaus auf den Flur.
Orazios Freund Giuseppe Cesari kam nach langer Zeit mal wieder zu Besuch. Artemisia war mit einem vollen Wassereimer in die Küche unterwegs. Prudenzia folgte ihr mit Cesari.
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