„Was verschafft mir die Ehre?“, fragte Prudenzia mit dem Anflug eines Lächelns und bot ihm einen Becher Frascati an.
Cesari lehnte Wein nie ab und sagte: „Gern. Ich kam gerade vorbei und dachte ...“
Artemisia stellte den Eimer ab und blieb stehen, wo sie war. Die beiden kümmerten sich nicht um sie.
„Ich hab gehört“, sagte Prudenzia und goss aus einem Krug Wein in einen Becher, „der Heilige Vater hat Euch zum Cavaliere ernannt?“
„Der Himmel weiß, womit ich diese Ehre verdient hab!“
„Mit Euren Bildern, dachte ich.“
Sie setzte sich und sah ihn an.
„So wird es wohl sein“, antwortete er und trank einen Schluck. „Ich nenne mich jetzt Cavaliere d’Arpino , aber für meine Freunde bleibt alles beim alten.“
„Orazio ...“, begann Prudenzia.
„Er wird es überstehen! Diese Gedichte freilich ... Kleine Meisterwerke der Poesie! Aber meiner Meinung nach hat er nichts damit zu tun!“
Er grinste breit.
„Bestimmt nicht!“, sagte Prudenzia hart. „Ich dachte eigentlich, er könnte schon wieder zu Hause sein ...“
„Leider nicht. Sie lassen ihn schmoren.“
Artemisia hätte fast gelacht. Schmoren!, dachte sie. Und dachte an die Lammhaxe, die gelegentlich in ihrem Herd schmorte.
„Ja, die Mühlen der Justiz! Aber jetzt hat’s sich ausgeschmort!“
Er lachte vergnügte, trank und beugte sich vor.
„Ganz im Vertrauen: Ich weiß aus sicherer Quelle, dass Kardinal del Monte an allen möglichen Hebeln zugange war und dass der französische Botschafter höchstpersönlich beim Heiligen Stuhl für Caravaggio gutgesagt hat! Na, und wenn Caravaggio freikommt ...“
Prudenzia wurde erst blass, dann rot.
„Das heißt ...?“
„Das heißt alles mögliche, aber vor allem, dass Orazio auch bald freikommt.“
„Er kommt frei?“, jubelte Artemisia.
Obwohl sie eigentlich böse auf ihn war.
Am nächsten Tag wurde ihr Vater ohne Begründung entlassen.
7. Wie Artemisia in die Fußstapfen ihrer Mutter trat, obwohl sie in die ihres Vaters treten wollte
Am Weihnachtsmorgen 1605, kurz nach dem Frühstück, sie saßen alle noch in der Küche, bäumte sich Prudenzia plötzlich auf, warf sich nach hinten gegen die Lehne ihres Stuhl und schrie vor Schmerz auf. Gerade noch konnte Orazio sie an den Händen greifen und halten.
„Die Wehen!“, stöhnte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen.
Die Kinder saßen wie festgefroren und starrten ihre Mutter an.
Orazio brauchte eine Schrecksekunde, dann hob er sie vom Stuhl und trug sie ins Schlafzimmer. Blut tropfte auf den Boden.
„Die Hebamme!“, schrie er über die Schulter. „Und ein Arzt! Artemisia, Cecco, schnell!“
Artemisia sprang auf und rannte wie betäubt auf die Straße und die Straße hinunter, zur Wohnung der Hebamme, sie wusste, wo sie wohnte, durch den grauen Tag.
Sie stirbt, dachte sie. Meine Mutter stirbt! So war es noch nie!Noch bei keinem Kind! Sie rannte, sie erreichte das Haus, in dem die Hebamme wohnte, sie klopfte.
„Meine Mutter stirbt!“, schrie sie.
Ein Mann öffnete ihr.
„Meine Mutter stirbt! Schnell! Die Wehen haben begonnen! Das Kind kommt!“
„Lavinia!“, rief der Mann. „Ein Notfall!“
Die Hebamme kam. Sie kannte Artemisia.
„Schnell, schnell! Sie blutet ganz schrecklich! Es kommt zu früh!“
Artemisia zitterte am ganzen Körper.
Die Hebamme griff sich ihre Tasche und die beiden gingen die Straße hinunter. Artemisia wäre am liebsten gelaufen. Jede Sekunde war kostbar. Vor der Haustür stießen sie auf Cecco und den Arzt. Die Hebamme und der Arzt eilten ins Schlafzimmer, aus dem kein Laut zu hören war. Artemisia und Cecco gingen wieder in die Küche, wo Giulio und der anderthalbjährige Marco verloren saßen. Alle warteten. Im Schlafzimmer wurde leise gesprochen. Abgerissene Worte, sie verstanden nichts.
Artemisia versuchte zu beten, wie sie es gelernt hatte, dass ihre Mutter nicht sterben solle. Sie betete zu Gott, der Jungfrau Maria und allen Heiligen, die sie kannte. Ihre Brüder und sie saßen in der Küche wie Schafe, um die der Wolf kreist. Artemisia betete.
Sie hatte Geburt und Tod kennengelernt. Sie hatte das Schreien ihrer Mutter gehört, wenn sie ein Kind bekam, zuletzt Marco, und ihr Glück erlebt, wenn der neue Bruder geboren war. Zwei Brüder waren gestorben, die beiden Giovanni Battistas. Die zwölf Jahre ihrer Ehe hatte Prudenzia damit verbracht, Kinder zu kriegen und aufzuziehen. Es war schwer, alle Kinder durchzubringen. Der Herr gab und nahm, der Mensch hatte sich zu fügen.
Artemisia betete mechanisch ein Ave Maria , das sie für ihre Erste Kommunion im letzten Frühjahr auf lateinisch auswendig gelernt hatte. Ave Maria, gratia plena . Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade. Und all die Gnade flehte sie auf ihre Mutter herab.
Dann ging im Flur eine Tür.
„Cecco!“, schrie Orazio. „Lauf zum Priester!“
Artemisia erschrak. Sie stirbt!, dachte sie. Sie stirbt wirklich!
Hatte der Arzt die Blutung nicht stillen können?
Cecco stand auf und rannte hinaus. Artemisia folgte ihm. Er rannte zum Haus hinaus. Artemisia blieb im Flur. Aus dem Schlafzimmer kam Gemurmel. Sie wollte es nicht hören, das verdammte Gemurmel, aber sie blieb stehen. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie rannte auf die Straße. Es war feucht und kalt. Leute kamen und gingen. Aus Richtung der Piazza del Popolo wallte ein Priesterheran, Cecco an seiner Seite. Artemisia ging ins Haus zurück, in die Küche, zu den Kleinen, den Küken.
Sie hörten den Priester kommen und durch den Flur laufen. Die Tür zum Schlafzimmer ging. Cecco kam in die Küche zurück.
Dann lange nichts. Eine quälende Ewigkeit nichts.
Wieder die Tür. Die Stimme des Arztes. Er verabschiedete sich. Der Priester auch. Schritte. Die Haustür.
Orazio kam in die Küche. Er blieb in der Tür stehen und sah seine Kinder an. Er atmete schwer. Er schwieg.
Warum sagt er nichts?, dachte Artemisia. Was ist mit unserer Mutter?
„Der Pater hat eurer Mutter die Sterbesakramente erteilt“, sagte er. „Es ist keine Hoffnung mehr.“
Nein!, dachte Artemisia. Nein!!!
Orazio ging zum Tisch und setzte sich zu den Kindern.
Niemand sprach.
Artemisia begann zu weinen. Dann Cecco. Endlich weinten sie alle, nur Orazio saß schwer und tränenlos am Tisch. Er sah wie versteinert aus.
Früh am nächsten Morgen starb Prudenzia.
Artemisia ging mit den Jungen ins Schlafzimmer, um von ihr Abschied zu nehmen. Ihre Mutter lag aufgebahrt auf dem Bett, das tote Gesicht starr, die Augen geschlossen, der Unterkiefer hochgebunden. Der Bauch unter dem Leintuch dick, die Hebamme hatte das tote Kind dort festgebunden.
Ist es ein Mädchen oder ein Junge?, dachte Artemisia. Sie hätte so gern eine Schwester gehabt.
Am Mittag wurde der Sarg gebracht und noch am selben Tag, einem trostlosen, regnerischen Tag im römischen Winter, wurde ihre Mutter beigesetzt.
Sie fehlte an allen Enden und Ecken. Prudenzia war in allem perfekt gewesen, sie hatte die Familie zusammengehalten. Sie war ihr Mittelpunkt gewesen.
Orazio musste das häusliche Leben neu organisieren, aber es stellte sich sofort heraus, dass er fast keinen Spielraum hatte. Marco wurde einstweilen bei Prudenzias Mutter untergebracht. Cecco war inzwischen acht, Giulio sechs, und zusammen mit Artemisia blieben sie beim Vater.
Sie saßen beim Abendessen und Orazio räusperte sich und sagte: „Die Beerdigung hat meine wenigen Ersparnisse aufgefressen, aber das Bild, an dem ich arbeite, wird so viel Geld bringen, dass es für die nächste Zeit reicht. Eine Frau, die uns den Haushalt führt, kann ich mir nicht leisten.“
Er sah Artemisia an. Artemisia schien es, als dringe ihr dieser Blick unter die Haut. Sie stand auf, rannte hinauf in ihr Zimmer, warf sich aufs Bett und schluchzte.
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