„Wir leben im zweiten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends“, gab Stoessner gerade etwas ungehalten von sich. „Da rennt kein Agent als Playboy mehr im Alleingang durch die Gegend und legt Leute um und Mädchen flach, auch wenn sie es verdient haben.“ Er war sich der Komik seiner Worte nicht bewusst. „Heutzutage haben wir Satteliten, wir hören Telefone ab, wir überwachen das Internet. Unsere Waffen sind Tastaturen und Bildschirme, nicht Messer und Pistolen!“
„Jawoll, Herr Generalmajor!“ stimmte Günter Freysing dem Chef der Abteilung TE, gegen Terrorismus und Internationale organisierte Kriminalität, zu, neben dem Besuchersessel stehend, da Stoessner ihn noch nicht aufgefordert hatte, Platz zu nehmen.
Die Anrede war anerkennend, wusste er doch, dass Stoessner lange Zeit in der Truppe aktiv gewesen war. Kommando Spezial-Kräfte, KSK. Bevor er hochdekoriert von „Wo-auch-immer“, wie er es nannte, zurückgekehrt und dann in den letzten fünfzehn, zwanzig Jahren eine beinahe kometenhafte Laufbahn eingeschlagen hatte. KFOR im Kosovo und Nato-HQ Brüssel waren nur zwei seiner Stationen, die bekannt waren; es gab auch weniger bekannte.
„Sax“ dachte derweil an seinen letzten Einsatz, der heute Vormittag erst geendet hatte, nach einer weiteren mehr als heißen Nacht mit der schönen Rita – oder Cathleen, wie sie in Wirklichkeit wohl hieß. Katie! - Der Morgen, nachdem sie einander erkannt hatten, war noch einmal sehr feurig gewesen, so als sei es ihre letzte gemeinsame Nacht auf Erden. Er reute nichts.
Leider war sein Freund und Kollege Oskar Brenner, ein blonder Enddreißiger, dann sehr pünktlich gewesen und hatte ihm und Katie vor der Hütte kurz hupend den mitgebrachten Sportflitzer, einen flotten BMW i8, überlassen, während Brenner selbst den in Udine besorgten Leihwagen in eine völlig andere Richtung steuerte, um mögliche Verfolger auf eine falsche Fährte zu locken. Das war ein alter Trick, aber nichtsdestotrotz wirksam. Brenner gehörte zur „speziellen Fahrbereitschaft“ des BND in Pullach, er hatte Freysing schon vielfach in Europa mit Transportmitteln versorgt. Sie kannten einander seit Jahren sehr gut.
Es ging nach dem eiligen Auschecken zusammen mit Katie in dem neuen Wagen zunächst die Via Nazionale 110 hinauf zur offenen Grenze am Plöckenpaß und durch die malerische österreichische Bergwelt.
Am bekannten Plöckenhaus legten sie eine kurze Rast ein, da sie bei ihrer schnellen Abreise am frühen Morgen das Frühstück hatten auslassen müssen.
Dann führte sie die Fahrt weiter über Kötschach-Mauten nach Oberdrauburg, wo im Dunst des späten Morgens die Ruine der fernen Hohenburg zu erahnen war. Im Draubachtal passierten sie gegen neun Uhr das imposante Schloss Bruck bei Lienz. Immer wieder blickte er dabei sorgsam in den Rückspiegel.
Sie sprachen unterwegs nur sehr wenig, hielten aber lächelnd oft und intensiv Händchen, beinahe wie verliebte Teenager. Im Autoradio lief dazu das Stück „Boom Boom“ aus dem Debut-Album von „Femme Schmidt“ ; später dann irgendwann „Shadowman“ aus „Above Sin City“ von derselben Sängerin.
Der Staatsstraße 108 folgend, fuhren sie durch das östliche Tirol weiter, bis sie in das kleine Städtchen Matrei kamen. Nach wie vor keine Verfolger.
Das Navigationssystem leitete sie von dort aus zielsicher in und durch den Felbertauerntunnel nach Mittersill und dann weiter über die Pass-Thurn-Straße nach Kitzbühel; schließlich am „Wilden Kaiser“ vorbei auf die Inntalautobahn in Kufstein-Nord, wo sich Katie dann entschied, bis München mitzufahren. Das Misstrauen, so es überhaupt noch bestanden hatte, war verschwunden.
Nur einmal mussten sie irgendwo auf dem Weg durch die Alpen einen unbeabsichtigten kleinen Umweg fahren, als sie auf eine Straßensperre stießen. Diese galt jedoch nicht etwa ihnen, sondern war aufgrund einer Überschwemmung durch die Frühjahresschmelze erforderlich geworden.
Es war ansonsten eine ruhige Fahrt mit insgesamt eher mäßigem Verkehr: Die Winterurlauber waren schon weg und die Sommerurlauber noch nicht da. Sie waren jetzt schon auf bundesdeutschem Gebiet und absolut sicher, nicht mehr verfolgt worden zu sein. Nicht umsonst hatte er beim Bezahlen der Rechnung im Landgasthaus nebenbei die Bemerkung fallen lassen, über die Schweiz nach Frankreich fahren zu wollen; die Richtung, die Oskar Brenner mit dem Leihwagen eingeschlagen hatte. Erst, als sie von der A93 auf die A8 in Richtung der bayerischen Landeshauptstadt wechselten, sammelte sich mehr Blech auf den Straßen, aber sie nutzten permanent die Überholspur.
Kaum vier Stunden nach ihrem Aufbruch erreichten sie den Flughafen „Franz-Josef-Strauß“. Sie waren nicht gerast, um das geschulte Gendarmenauge nicht auf sich Aufmerksam zu machen, aber gleichwohl zügig vorangekommen.
„Heute ist nicht alle Tage, wir sehen uns wieder, keine Frage!“ meinte „Sax“ zu dem Zeitpunkt.
Ein intensiver Abschiedskuss, und mit einem letzten Winken nahm sie ihr weniges Gepäck aus dem Kofferraum. Dann war sie Vergangenheit. Katie war nun in einer Sackgasse gelandet, nachdem sich Günter Freysing als BND-Agent entpuppt hatte. Ihr unter wahrlich vollem Körpereinsatz mühsam aufgebauter Kontakt zur DEMTAG war mit der Flucht Dr. Julius Stahlmanns in den Nahen Osten abgerissen und ihr Einsatz damit wohl beendet.
Die Überwachung der DEMTAG würden ein paar freundliche Herren vom MAD oder BKA übernehmen - Inland war nicht das Geschäft des BND – und sicher bald den Vorstandsbossen ein paar unangenehme Fragen über die Herkunft der Pläne für den Prototypen stellen, der nun seinerseits wohl gerade schon von Experten des Verteidigungsministeriums auseinandergenommen wurde.
Anschließend würde man den Franzosen einen Wink geben, wenn sich der Diebstahlverdacht bewahrheitete, den Katie geäußert hatte - dann konnten sie ihr eigenes Leck dichten.
´Alles nicht mehr meine Aufgabe… - diplomatischer Kram!´, dachte Freysing.
„Eigentlich wollte ich sie eine Weile aus dem aktiven Dienst heraushalten“, weckte ihn dann Stoessner aus seinem halben Tagtraum, „bis sich die Wogen in Skopje etwas geglättet haben, aber erstens kommt es anders…“
„…und zweitens wie man grad´ nicht denkt.“ ergänzte Freysing.
Der Generalmajor bedeutete ihm gnädig mit einer Handbewegung, sich zu setzen. Er tat es nicht etwa, um seinem Agenten das Stehen zu ersparen, sondern um selbst nicht länger zu seinem Gesprächspartner aufblicken zu müssen.
Etwas sehr gravierendes musste vorgefallen sein, dass man ihn von München nicht in sein Unterschleißheimer unauffällig auf den Namen „Gernot Flöter“ als „Musiklehrer und Orchesterspieler“ gemietetes kleines Häuschen fahren ließ, und auch nicht in die noch bestehende alte Zentrale in der bayrischen Landeshauptstadt beorderte, wo er auch sein kleines Büro besaß.
Ein weiterer Bediensteter der Pullacher Fahrbereitschaft, den Freysing nur vom Sehen her erkannte, hatte ihn am Flughafen erwartet und war erschienen, just in dem Moment als Katie außer Sicht im Gebäude verschwunden war, um den nächsten Flieger nach Paris zu buchen.
Der Mann hatte ihm während der kurzen Instruktion nur einen Flugschein in die Hand gedrückt, um selber den BMW i8 zu übernehmen. Die Logistik des BND funktionierte tadellos. Kurz nach 13 Uhr landete seine Maschine pünktlich in Tegel – der neue, „Willy-Brandt“, fristete immer noch sein Dasein als irgendwann in der Zukunft zu eröffnender Geisterflughafen - von wo aus er mit einem Taxi zum neuen BND-Komplex in der Bundeshauptstadt gelangte. Der Fahrer, ein redseliger eingebürgerter Vietnamese, plapperte akzentuiert ohne Unterlass, und so er hatte irgendwann auf „Durchzug“ geschaltet. Er fühlte sich unausgeruht und schlafbedürftig.
Nun saß er in dem modern eingerichteten Büro dem von Präsidentenbildern und deutschen Hoheitssymbolen umrahmten Generalmajor Stoessner gegenüber, dem neuen Leiter für Operative Einsätze der Sektion, seitdem dessen Vorgänger nach einem dieser kleinen Geheimdienst-Skandälchen aus dem Amt geschieden war. Er mochte den neuen Chef der Militär-Abteilung TE (Terrorismus und Internationale Organisierte Kriminalität) nicht sonderlich, aber das beruhte seines Erachtens nach auf Gegenseitigkeit.
Читать дальше