Trotz der späten Stunde und der halbwegs akzeptablen Show waren die Plätze in der Bar nur spärlich besetzt. Die meisten Menschen befanden sich dieser Tage auf dem Hafenfest, das alljährlich im Mai zehntausende von Menschen anlockt. Aber auch sonst schienen die großen Tage des ehemals ebenso glamourösen wie verruchten Stadtteils vorbei zu sein.
Freysing hatte sich auf der Fahrt von Berlin nach Hamburg über den Bordbildschirm mit den Fakten vertraut gemacht, die man über Novotny und Frier kannte, und die auf sein Computersystem übertragen worden waren.
Beides eigentlich untadelige Seeleute, schien es irgendetwas in Novotnys Leben gegeben zu haben, das ihn unlängst aus der Bahn geworfen hatte.
Der Kapitän a.D. hatte angeblich, erst heimlich und dann unheimlich, mit dem Trinken angefangen, und laut den Unterlagen hatte das zu einem Unfall an Bord der „Baden-Württemberg“ während der Testfahrt auf der Nordsee geführt. Drei Matrosen waren dabei nicht unerheblich verletzt worden. Man hatte nicht herausfinden können, was der Hintergrund war, oder sich auch nicht wirklich Mühe gegeben. Oder es war etwas vertuscht worden.
Novotny war unverheiratet und es auch nie gewesen, aber dem Anschein nach solide. Keine großartigen Frauengeschichten, auch keine Männer; der Dienst auf See war seine Heimat, Beruf und Berufung gewesen. Er beteiligte sich nicht an Glücksspielen, und das einzige nicht seemännische Hobby, für das er sich je zu interessieren schien, war American Football. Er hätte durchaus das Zeug gehabt, irgendwann einen der geringeren Admiralsränge zu bekleiden.
Frier war da von einem etwas anderen Schlag. Ein Karrieremensch, der aber nichts riskierte, sondern mit vorsichtigem Handeln stets in der Deckung blieb und immer zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle war. So wie diesmal auch, weshalb die Wahl, ihn zum Nachfolger für Novotny zu machen, scheinbar automatisch erfolgt war. Verheiratet, zwei Kinder; halbwüchsige Mädchen. Er war kein Draufgänger, sondern ein funktionierender Entscheidungsträger, der Befehle ebenso konsequent gab wie er sie befolgte, akkurat und gründlich, und nie einen Zweifel darüber aufkommen ließ, das er der richtige Mann in der Position war, die er gerade ausfüllte, und war in seinen Kreisen wegen seiner ausgesprochenen Verlässlichkeit und strengen Gutmütigkeit beliebt.
Gleichwohl waren sie einander irgendwie ähnlich, hatten beide eine enorme Führungsstärke und Willenskraft und schließlich durch diese notwendigen Eigenschaften trotz Beförderungsstaus unablässig in der Marinehierarchie aufgestiegen.
Umso mehr erstaunte es Freysing, dass Novotny, bis zu dem Unfall bei der Testfahrt scheinbar ein untadeliger Mann, irgendetwas so aus der Bahn hatte werfen können. Um herauszufinden, was es war, deshalb war er hier.
Die Matrosen von der „Baden-Württemberg“, die aufgrund ihrer bei dem Unfall erlittenen, aber inzwischen nahezu abgeklungenen Verletzungen nicht mit zum Horn von Afrika abkommandiert worden waren, bildeten einen geringen Ansatz, nachdem er vergeblich versucht hatte Kapitän a.D. Novotny telefonisch zu erreichen, um ihm noch am Abend einen Besuch abzustatten. Er würde wohl die Gelegenheit bekommen, sie alle vorsichtig auszufragen, aber im Moment waren sie zu sehr beschäftigt und würden bei einer Störung ihrer gegenwärtigen Landurlaubs-Aktivitäten kaum gesprächig sein.
Morgen würde er dann das Gespräch mit dem Ex-Kapitän direkt suchen, in der Hoffnung, zu dem Zeitpunkt schon etwas mehr zu wissen, um ihn dann gegebenenfalls aus der Reserve locken zu können, falls er etwas verbarg.
Irgendwas mussten die Matrosen schließlich wissen, das nicht in den Akten stand. Hoffte er zumindest. In Gedanken versunken nippte er an seinem Glas.
„Einsam?“ fragte eine Stimme mit rauchigem Klang plötzlich neben ihm.
Freysing wandte den Blick vom Spiegel ab und sah in das Gesicht einer recht betagten, unter der sauberen Schminke verlebten Animierdame.
Groß, brünett, mit fortschreitenden Altersflecken im tiefen Dekolleté, registrierte er. Sie trug eine große helle Perlenkette um den Hals. ´Nun´ , dachte er bei sich, ´wenn er es hier schon mit dem ältesten Gewerbe der Welt zu tun bekam, warum musste es dann ausgerechnet ein Gründungsmitglied sein?´
„Bestellst du mir einen Drink?“ fragte dieselbe Stimme aus dem geschminkten Mund. Wenn er nicht auffallen wollte, musste er das Spiel wenigstens eine Zeit lang mitspielen. Wieso war er sonst hier? Der Barkeeper stand schon erwartungsvoll hinter seiner Theke parat.
„Die Dame nimmt einen…“ sagte er langsam und sah sie fragend dabei an.
„Champagner.“ vollendete sie zufrieden. „Und für den Herrn hier nochmal dasselbe!“ Ziemlich sicher schien sie am Getränkeumsatz beteiligt.
Der Barkeeper öffnete mit einem dumpfen „Plopp“ eine kleine Flasche der billigsten Sorte, wahrscheinlich, um später die teuerste zu berechnen, goss ein Glas ein und stellte es vor der „Dame“ auf den Tresen.
Danach füllte er ein breites, niedriges Glas zunächst mit etwas Eis und dann beinahe bis zum Eichstrich mit den Flüssigkeiten aus zwei verschiedenen Flaschen, eine farblos, eine braun; die klare immerhin von jener Marke, die Freysing bevorzugte; ohne beim zweiten Drink allerdings die Anweisung zu beachten, die dieser bei seiner ersten Bestellung gegeben hatte:
„Skyy-Wodka bis in die Hälfte eines Whiskey-Glases, kräftig gewürzte, kalte Kraftbrühe dazu - und mit zuvor hineingegebenem Crushed-Ice verrühren. Keine Würfel! Ohne Gemüse!“ Simpel, aber gut. Und auch ein Relikt seiner Amerika-Zeit, wie die „St. James´“. In der Bar herrschte allerdings Rauchverbot.
Zu einem „normalen Bull Shot“, der eigentlich in einem Cocktail-Glas serviert wird, gehörten üblicherweise freilich Eiswürfel und ein Stengel Petersilie. Aber das war etwas für „Jungs“, nichts für „Männer“.
Als er den Drink vor Freysing platzierte, nahm er geschickt das alte Glas weg, obwohl es noch einen kleinen Schluck beinhaltete.
Es folgte eine eher belanglose, kurze Unterhaltung, in der die „Dame“ zu taxieren schien, ob das Opfer ihrer Begierde zu mehr Bereit und vor allem zahlungskräftig war. Sie nippte an ihrem Champagnerglas.
Als der Barkeeper sich zwei neuen Gästen zuwandte, die erschienen waren und am anderen Ende der Theke Platz genommen hatten, raunte ihm die „Dame“ etwas zu. Sie musste es wiederholen, damit er es verstand, denn seine Aufmerksamkeit galt in dem Augenblick bereits wieder den Matrosen in der Sitzgruppe, allerdings ohne dass sich dort anderes tat als zuvor.
„Trinken Sie es aus und kommen sie mit!“
Der Barkeeper war damit beschäftigt, Drinks für die neuen Gäste zu mixen.
„Keine Lust auf ein Schäferstündchen!“ lehnte Freysing kurz angebunden ab.
Die „Dame“ hatte ihr Champagnerglas nun in einem Zug leer getrunken und drängte jetzt zum Aufbruch. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, fasste sie ihn mit einem erstaunlich festen Griff am Oberarm und zog ihn halb vom Barhocker herunter, woraufhin er sie scharf und ablehnend ansah.
Ihn kurz mit großen Augen dringlich ansehend, ließ sie ihn sogleich wieder los, drehte sich um und ging in Richtung Tür, ohne zu prüfen, ob er ihrer Aufforderung auch wirklich Folge leistete.
Er legte einen 50-Euro-Schein auf den Tresen, den der Barkeeper, kaum das Freysing und die „Dame“ an der Tür waren, in seiner eigenen Tasche verschwinden ließ, und folgte ihr hinaus auf die Straße. Ein Volvo-Taxi kam schnell heran. Das „Taxi“-Schild auf dem Dach war allerdings ausgeschaltet.
„Vorn einsteigen!“ befahl sie ihm und riss die Tür der Beifahrerseite auf.
Der Mann hinter dem Steuer war ein grimmig dreinblickender Hansestädter mit osteuropäischem Migrationshintergrund. Davon gab es hier eine ganze Menge.
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