Elmar hielt inne, sein Gedankenstrom brach ab. Warum waren gerade jetzt diese niederschmetternden Vorstellungen wie eine Springflut aus seinem Seelenabgrund hervorgestürzt? Es konnte doch nicht allein am Anblick des heruntergekommenen Gartens liegen, dass er sich zu solch beklemmenden Assoziationen über den düsteren Lauf der Welt hatte hinreißen lassen!? Elmar vermutete, die Erzählungen von Holger Jörns seien daran schuld; sie hatten etwas in ihm ausgelöst, hatten Ereignisse aus seiner Vergangenheit in ihm hochgewirbelt, die er bislang verdrängt hatte. Das rücksichtslose, egoistische Verhalten jenes gefährlichen Mädchens, welches das Glück einer Braut zerstörte, konnte er mit seiner Auffassung von Anstand, Redlichkeit und Ehrenhaftigkeit nicht vereinbaren. Gleichzeitig fielen ihm parallel zu diesem schäbigen Vorgehen des Mädchens noch andere Schlechtigkeiten ein, ausgeführt von Menschen, mit denen er zu tun hatte, jedoch geriet ihm die Erinnerung daran nur vage, im Einzelnen waren ihm diese furchtbaren Erlebnisse entfallen. Nur dass es gewissenlose Individuen gegeben hatte und dass sie auch nach ihm wie mit ausgefahrenen Krallen gelangt hatten, um ihn zu verletzen - daran erinnerte er sich, das heißt: er stellte sich in diesem Augenblick vor, dass es solche dramatischen Begebenheiten gegeben haben muss. Denn er hatte ja in seinem Leben mehrmals die Welt aus der Sicht eines Verlierers betrachten müssen. Diese Sicht aber ist grauenhaft; die Welt verwandelt sich in einen düsteren Ort, und die Menschen legen ihre liebenswürdigen Masken ab; dahinter tritt dann grinsend ihre Bosheit und eine erschreckende Verdorbenheit zutage.
Doch rasch beendete Elmar seine unseligen Grübeleien. Er wollte in die Zeit jener Blicke damals, die sich notgedrungen auf das Hässliche, Fatale gerichtet hatten, nicht mehr zurückkehren. Er wollte jetzt nur noch, auch wegen der ganzen Ernüchterung, die ihn beim Betrachten des Hauses und des ungepflegten Gartens erfasst hatte, mit dem nächsten Bus nach Waldstädten zurückfahren. Außerdem war er entschlossen, seiner Verabredung dort nur kurz nachzukommen und anschließend eilig nach Hause, zu Lisi und seinen Kindern, zu fahren.
Doch ob er diesen eher vagen Entschluss auch in die Tat umsetzen würde, erschien ihm kurz darauf wieder zweifelhaft. Denn er tat etwas, was diesem Entschluss in einer Weise entgegenarbeitete, dass ihm praktisch schon der Boden entzogen war: Elmar blickte zu den bewaldeten Hügeln der Steinfirst hinauf. ‚Ah’, dachte er, ’der Steinfirstsee! Ja, da liegt er, jenseits der Hügelkette, verborgen in einem stillen Fichtenwald - der abergläubisch gefürchtete, von vielen gemiedene und doch von mir einst so geliebte Steinfirstsee!’ - Durfte er ihn dort, in seiner verzauberten Einsamkeit, für immer ruhen lassen, diesen Ort der Sehnsucht und der erregenden Erinnerungen, durfte er morgen einfach lieblos nach Hause fahren, ohne noch einmal hinzufahren, um den See - vielleicht ein letztes Mal in seinem Leben - zu begrüßen und nachzuschauen, ob sich irgend etwas in seinem Umkreis und an seinen Ufern verändert hatte? Könnte er das fertig bringen?
Ja, könnte er - sagte er zu sich - jedenfalls heute! Es wurde schon langsam dunkel, und jetzt noch zum Steinfirstsee zu gehen, der immerhin 4 km von Enkdorf entfernt lag, war unvernünftig. Morgen hatte er ja auch noch Gelegenheit dazu. Heute wollte er nur noch zurück nach Waldstädten, allerdings mit dem Bus, nicht zu Fuß. So ging er also entschlossen zurück zur Bushaltestelle, wo er erst noch einige Zeit warten musste, und als der Bus schließlich eintraf und er bald darauf zurück nach Waldstädten fuhr, überlegte er unterwegs, wie er den nächsten Tag verbringen sollte. Den Plan, sofort nach Hause zurückzufahren, ließ er endgültig fallen. Zunächst wollte er Frau Lambertz anrufen und seine Ankunft nicht für den nächsten, sondern für den übernächsten Tag ankündigen. Am nächsten Tag, morgen also, beabsichtigte er, erneut nach Enkdorf zu fahren, denn die Aussicht, noch einmal den Steinfirstsee aufzusuchen, hatte in ihm ein geradezu unbezwingbares Verlangen ausgelöst, nicht nur den See, sondern auch das Wochenendhaus wiederzusehen, das sein Vater vor langer Zeit am Ufer bauen ließ. Ob dieses Haus noch stand, das interessierte ihn, das wollte er unbedingt noch herausbekommen.
Im Hotel Krone angekommen, ging er zur Rezeption und verlängerte seinen Aufenthalt um noch eine Nacht. Dann begab er sich auf sein Zimmer, wo er sich rasch noch etwas frisch machte, denn er wollte einigermaßen zivilisiert im Speiseraum des Hotels erscheinen und dort ein kurzes Nachtmahl einnehmen. Nachdem er zu Abend gegessen hatte, blieb er noch eine Weile am Tisch sitzen und blätterte zerstreut in einer Illustrierten. Sollte er Jörns’ Rat vielleicht doch befolgen und noch einen Bummel durch die Kleinstadt machen? Mal flüchtig da und dorthin schauen, um zu sehen, was sich geändert hatte? - Nein, entschied er nach kurzem Nachdenken! Er war zu müde, und er hatte keine Lust! Auch den Anruf bei Frau Lambertz verschob er auf morgen früh. Also begab er sich auf sein Zimmer und legte sich, erschöpft von der Reise und den Aufregungen des Tages, ins Bett, um einen langen und wie er hoffte: erquickenden Schlaf zu tun.
Doch jetzt trat das ein, was er insgeheim befürchtete: Er schlief nicht ein, er lag auf seinem Hotelbett, hellwach und aufgewühlt. Ständig musste er über die Erzählungen des Journalisten Jörns nachdenken, besonders über seine letzten Worte, die sich ihm ins Gedächtnis eingegraben hatten und die nun, wie aus einem inneren Lautsprecher heraus, mit Jörns Stimme auf ihn einredeten: ‚Die Natur ist unser aller Schicksal.... sie zerstört die beste Ehe...sie zerstört die beste Freundschaft.....!’
Was sollte das alles? Was sollte die merkwürdige, bilderreiche Beschwörung der Natur? Warum - fragte er weiter - hatte Jörns ihm überhaupt jene seltsame Geschichte erzählt? Um ihm die Zeit zu verkürzen, während der Fahrt nach Enkdorf? Daran glaubte er nicht mehr! Vielmehr glaubte er, einem hässlichen Gedanken Raum gebend, Jörns habe etwas Bestimmtes im Schilde geführt, etwas Gemeines, Tückisches. Obwohl Elmar vorher nie etwas von dem betrogenen Mädchen gehört hatte, kam ihm die Geschichte mit einem Male bekannt vor, so als hätte sie eine rätselhafte Beziehung zu seinem eigenen Leben, und er vermutete schließlich, wobei er an die Blicke des Journalisten dachte, wie sie von der Seite forschend auf sein Innerstes zielten, dieser Jörns habe mit seiner Erzählung seine, Elmars, eigene Vergangenheit im Visier gehabt, wo sich ähnliche Ereignisse zugetragen hatten, wo es auch zu einem Bruch, zu einem Verrat gekommen war. Auf diesen Verrat oder was immer es gewesen war - er konnte sich im Augenblick nicht genau erinnern und er wollte das auch gar nicht - auf ihn hatte der neugierige und zugleich unverschämte Journalist angespielt, indem er ihm die Geschichte sozusagen als Gleichnis, als tragische Parabel erzählte!
Doch plötzlich waren sie da, die Erinnerungen, auf die Elmar so gerne verzichtet hätte, Erinnerungen an längst abgeschiedene Zeiten. Aus den verborgensten Winkeln seiner Seele stiegen sie empor, traten heraus aus den schwärzesten Schatten des Unterbewussten, wo sie lange in tiefer, barmherziger Vergessenheit geruht hatten, und sie standen jetzt vor ihm, zuerst noch verschwommen, bald aber scharf konturiert und klar unterscheidbar - Bilder mit verwirrendem, schlafraubendem Inhalt, und zwischen Halbschlaf und dämmrigem Wachsein ständig hin - und herschwankend, überlegte er verzweifelt, wie er den nicht abreißenden Strom der Erinnerungen, diesen zermürbenden Attacken auf seinen Nachtschlaf ein Ende bereiten könnte. Als er endlich einschlummerte, suchten ihn grausige Träume heim: Wie ein düster beleuchteter Horrorfilm ziehen sie vor den Augen seines träumenden Ichs vorüber, versetzen es in Angst und Schrecken. Er sieht das betrogene Mädchen, von dem Jörns erzählt hat; im weißen Grabgewand, die Haare wirr um den Kopf, schreitet es durch die engen Gassen von Waldstädten, vorbei an den geduckten, fugenlos aneinandergereihten Häusern der Altstadt. An einem Haus hält es an, einem größeren, herrschaftlichen, und ihre starren, toten Augen richtet sie jetzt zum oberen Stockwerk hinauf, wo zwei grell erleuchtete Fenster kalte, seelenlose Scheinwerferblicke in die Nacht hinausschicken, als wären es die viereckigen Augen eines Monsters. Dann - ein Szenenwechsel: die unheimliche Gestalt taucht erneut auf, dieses Mal in einem Treppenhaus, und sie klopft an eine Tür, bittet um Einlass, tritt vor eine versammelte Hochzeitgesellschaft und beginnt zu sprechen, zuerst leise, unverständlich; hingemurmelte Sätze fegen die Partylaune der Hochzeitsgäste weg, lächelnde Gesichter erstarren zu Grimassen. Schließlich lauter werdend, redet sie mit schneidender Stimme, prangert ihre beste Freundin an, bezichtigt sie, ihr den Bräutigam weggenommen zu haben, auf schändliche Weise, mit raffinierten Zaubertricks. ’Sie ist eine von euch!’, stößt sie hervor, ’und ihr, statt zu feiern, solltet diese kaltherzige Person aus euren Reihen verbannen, ihr solltet sie bestrafen! Sie ist eine Mörderin. Mich hat sie gemordet!’ - Und wieder ein Szenenwechsel: das Mädchen umschleicht das elterliche Haus der Rivalin, mit starrem Blick Ausschau haltend nach dem Liebespaar; schließlich entdeckt sie die beiden in einer Nische, in wildem Kusse vereinigt! ’Was tut ihr da?!’, schreit sie mit kreischender Stimme und schlägt mit ihrer Tasche auf die Rivalin ein; ’ihr habt kein Recht, so zu handeln! Dies ist mein Bräutigam. Du hast ihn mir gestohlen!’ Und als die beiden Verliebten in das Haus flüchten und die Tür hinter sich verschließen, kreischt die Verzweifelte: ’Hilfe, Hilfe, Polizei! Ist denn keiner da, der mir hilft?!’ -
Читать дальше