„Du hast recht, Elmar“, sagte sie mit fester, keine Spur von Unsicherheit verratender Stimme, „der Runenweiher kann ja gar nicht im Mittelalter entstanden sein, wenn Orpheus hier war. Aber, habe ich euch das nicht erzählt? Der See stammt doch aus der Atlantiszeit. Rundhof war eine Siedlung der Atlanter, die viele Jahrhunderte vor den Griechen bis hierhin zur Steinfirst vorgedrungen waren!“
Ja, das schien plausibel und logisch, zumindest war der ärgerliche Widerspruch beseitigt, dass der wandernde antike Sänger einen im Mittelalter entstandenen See als Einlasspforte zur Unterwelt benutzt hätte.
„Der Runenweiher also war ein in Griechenland bekannter Einstieg in die Schattenwelt“, behauptete die Großmutter weiter, ohne dass ein unsicheres Tremolo ihre Stimme verfremdete; „Orpheus musste erst mit einem Boot den Unterweltfluss Styx entlang fahren; der mündete direkt im Runenweiher. Dann also - riet ihm Charon, der Fährmann des Styx, der ihn ruderte - müsse er sich an einer bestimmten Stelle, die er ihm zeigen werde, die Nase zuhalten und rückwärts in den See fallen lassen. Keine drei, vier Meter unter der Oberfläche sehe er dann das Eingangstor zur Unterwelt. Das könne er gar nicht verfehlen, denn es schimmere ihm mit vielen flackernden, rötlichen Lichtern entgegen. Er brauche dann nur noch das Tor zu öffnen, schon sei er im Trockenen, könnte dann auch wieder atmen.“ - Dass wegen des Wasserdruckes das Tor gar nicht geöffnet werden konnte, verschwieg die Großmutter, und Klein-Elmar und seine Mitschüler waren in ihren physikalischen Kenntnissen halt noch nicht so weit fortgeschritten, dass sie auch hier sofort Protest hätten einlegen können. Und immer weiter sollte Orpheus dann - fuhr die Oma mit ihrer Erzählung fort - einen Gang hinuntergehen, so habe man ihm gesagt, bis er im Reich der unseligen und der seligen Geister angekommen sei. Und das habe Orpheus auch getan. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, habe er sich vom Boot des Charon ins Wasser plumpsen lassen, vier Meter unter der Wasseroberfläche dann das rot leuchtende Tor zu Unterwelt geöffnet und sei von dort hinabgestiegen.
Da Elmar damals den Rest der Orpheusgeschichte schon kannte, stellte er keine weiteren Fragen mehr. Die dreiste Lügengeschichte der Großmutter durchschaute er als Knabe zunächst noch nicht; seine Gedanken waren allein auf diese unerhörte Verlagerung der Orpheussage in die Gegend um den Runenweiher gerichtet, und allein das hatte ihn in helle Aufregung versetzt. -
Einsam war es zumeist an den Ufern des Steinfirstsees; man konnte früher dort stundenlang verweilen, ohne eine Menschenseele zu Gesicht zu bekommen. Das hing nicht zuletzt mit der Aura des Mystischen zusammen, welche den See, vor allem ein angrenzendes, hügelartig ansteigendes Waldstück, genannt der Topenbühl, umgab. Dieser hieß im Volksmund auch ’Totenbühl’, weil es dort nachts angeblich spuken soll. So war es nicht verwunderlich, dass diese Orte als unheimlich und dämonisch verschrieen waren und von Wanderern und Ausflüglern gerne gemieden wurden.
Elmar dagegen hatte als Heranwachsender jedem Aberglauben abgeschworen, auch eingedenk der phantastischen Erzählungen seiner Großmutter, die er schließlich als Knabe doch bald durchschaute. Fortan kümmerten ihn die zahlreichen Schauergeschichten nicht weiter, welche um den Runeweiher und den „Totenbühl“ gesponnen wurden. Er hielt sie allesamt für Hirngespinste. Der See verlor für ihn nicht nur die Aura des Schreckens, er avancierte sogar zu einem bevorzugten Ziel seiner Wanderungen und Radausflüge, ja es gab schließlich keinen Ort, den er zusammen mit seinen Freunden lieber aufgesucht hätte, um entweder mit ihnen auf die silbrige Wasserfläche hinauszuschwimmen oder - alleine in einem Ruderboot treibend - mitten im einsam ruhenden und wie verzaubert daliegenden See vor sich hinzuträumen.
Auch sein Vater hielt nichts von dem abergläubischen Geraune, welches man immer wieder in den Dörfern diesseits und jenseits des Steinfirstsees vernehmen konnte. Alle diese Schauermärchen hielten ihn nicht davon ab, ein kleines, direkt am Seeufer gelegenes Grundstück vom Gemeindefiskus zu pachten in der Absicht, dort, in der Stille des Runenwaldes, ein Blockhaus mit kleinem Garten zu errichten. Es sollte seiner Familie als Wochenendhaus dienen, damit sie an langen, heißer Sommerwochenenden sich erholen und einen kurzer Badeurlaub bequemer genießen könnte. Dieses Häuschen wurde denn auch innerhalb kurzer Zeit errichtet, und zwar im Selbstbauverfahren - nur das Fundament mit einem Kriechkeller für Gartengeräte ließ Elmars Vater von einem professionellen Maurer aus Backsteinen anlegen.
Im übrigen übernahm er selbst die Aufgaben des planenden Architekten, während die übrige Familie, allen voran Elmar und sein Freund Joachim Schaller, bei der Ausführung fleißig mit Hand anlegten, ja beide Jungen waren oft die einzigen, die sich auf der Baustelle abrackerten, derweil Elmars Vater, von seinem Beruf stark in Anspruch genommen, oft wochenlang nicht zum See hinausfahren konnte und bei Elmars Mutter und seiner Schwester der Anfangselan sich rasch legte; kein Wunder: das Hämmern und Schrauben, Sägen und Hobeln, Messen und Werkeln, alles oft in der prallen Sommersonne ausgeführt, war für sie, zumal für zarte Frauen -und Mädchenhände, doch nicht so das Angemessene -
Je länger Elmar nun von der Bushaltestelle aus zur hochragenden Steinfirst aufblickte, hinter deren Waldspitzen der Runenweiher in seiner mystischen Einsamkeit ruhte, umso fester schlossen sich alle seine Gedanken zu der einen Frage zusammen: Gibt es ihr Blockhaus eigentlich noch, welches sie einst unter so großen Mühen erbaut hatten? Stand es noch am Ufer des Sees, einsam und einladend zugleich, oder war es nach über zwei Jahrzehnten den Zeitläuten zum Opfer gefallen? Nun - dachte er - das wird sich gleich herausstellen; also lenkte er seine Schritte zum Ortsende, von wo man auf einem bequemen Waldweg den Steinfirstsee erreichen konnte.
Nach einer knappen Stunde Fußmarsch durch den Hochwald der Steinfirst sowie durch einen angrenzenden Höhenzug, dessen Name ihm entfallen war, lockerten die bislang dichtstehender Buchen und Eichen ganz plötzlich vor ihm auf, und zwischen ihren Stämmen konnte er zunächst ein Stück Himmel und bald darauf in einem weitläufigen Tal das altvertraute Bild des in der Mittagssonne freundlich schimmernden Sees erkennen. Der bis dahin gerade verlaufende Waldweg fiel in einer scharfen Biegung nach links ab, verwandelte sich in einen Hohlweg und entschwand bald darauf Elmars Blicken. In einigen Windungen führte er direkt zum See hinunter, vorbei an zahlreichen, hangartig abfallenden Wiesenstücken, die man ob ihres saftig-grünen Grases sehr gut als Viehweiden benutzen konnte, aber, soweit er sich erinnerte, niemals als solche gebrauchte, vielleicht weil die in Frage kommenden Bauernhöfe etwas zu weit entfernt lagen.
Die Sonne verkroch sich eben für kurze Zeit hinter einem dicken Wolkenballen, und sofort änderte der See, auf dem Elmars Auge wie gebannt fixiert war, sein Aussehen: seine ziemlich runde, bisher lichtübergossene Fläche verwandelte sich in ein dunkles, tief grünes Maar, und da überall an seinen Rändern, wo kurzstämmige Nadelwälder grenzten, nachtschwarze Fichten ihre Wipfel wie spitze Zacken in den Himmel reckten, kam es ihm vor, als läge dort unten im Talkessel ein riesiges, bewimpertes Insektenauge und starrte boshaft zu ihm herauf. Rasch löste sich sein Blick von der eingebildeten unheimlichen Erscheinung und eilte in Sekundenschnelle die Ufer des Runenweihers entlang, bis zu dem Punkt, wo nach seiner Erinnerung das Wochenendhaus seiner Eltern stehen müsste - vergeblich: der kleine Holzbungalow, der ob seiner leuchtend weißen Farbe einem von der Höhe blickenden Wanderer immer sofort ins Auge sprang - er konnte ihn trotz angestrengten Suchens nicht entdecken, und nach einigen Minuten wurde es ihm zur Gewissheit: das Häuschen war verschwunden, war regelrecht vom Erdboden ausgetilgt, als hätten unbekannte Kräfte es irgendwann einmal emporgehoben und anschließend in den See gestoßen.
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