Als nun der Bus die Stelle passierte, wo der Mönchswald sich zur Linken öffnete, lag das Dorf vor ihm, ausgebreitet zwischen den beiden Waldzügen, und er musste auch jetzt feststellen, nichts hatte sich aus der Ferne besehen geändert, alles sah so aus wie früher, als er noch zur Schule ging. Da kam es ihm wieder wie schon gestern vor, als wohnten seine Eltern immer noch in dem Haus da oben, und sie erwarteten zur Mittagszeit seine Rückkehr von der Schule, und er wäre gerade im Begriff, nach Hause zu kommen.
Doch sein Ziel war diesmal nicht sein Elternhaus; das interessierte ihn nicht mehr. Was hatte er noch mit einem Haus zu tun, welches man in eine städtische Behörde mit Büros unten wie oben verwandelt hatte. Nein, nur noch dem Steinfirstsee galt sein Interesse, nur ihn wollte er heute noch einmal aufsuchen, ein letztes Mal, so wie er es sich gestern vorgenommen. An die noch in der Zukunft schlummernden Ereignissen, die ihm gestern unaufhörlich durch den Kopf gingen, wollte er dieses Mal keinen Gedanken mehr verschwenden.
„Steinfirstsee“ – der Name ließ sich nicht so gut aussprechen; besser schon geht einem das Wort ‚Runenweiher’ über die Lippen; so heißt der See nämlich im Volksmund. Richtiger müsste er ‚Rundhofweiher’ heißen, denn angeblich stand vor undenklich langer Zeit an seiner Stelle - so berichtet es eine alte Sage - eine kleine Stadt mit Namen Rundhof. Auch ‚Rundhofweiher’ war nicht gut auszusprechen, und so hatte man daraus bald einen ‚Runenweiher’ gemacht; vielleicht auch deshalb, weil so viele Sagen über den Steinfirstsee und die geheimnisvolle Stadt „geraunt“ wurden, uralte Sagen voller dunkler Begebenheiten. Viele Male - erinnerte sich Elmar - wurden sie ihnen als Kinder dargeboten, sei es von seiner Großmutter oder von ihrem Dorfschullehrer, die beide spannend erzählen konnten, und ihre Kinderherzen gerieten dann immer in furchtbare Aufregung.
Eine dieser Sagen, die Elmar niemals vergessen wird, weil sie ihm damals einen gewaltigen Schrecken eingejagt, handelte von den reichen Leuten von Rundhof, ihrem frevelhaften Ehrgeiz, ihrem Hochmut, ihrem lasterhaften Leben. Selbstsucht, Hartherzigkeit und protzende Angeberei hätten sie mit zügellosem, die niedrigsten Sinne aufreizenden Genussleben verbunden. Keine Ausschweifung, keine Verdorbenheit sei ihnen fremd gewesen, sprach Elmars Großmutter einst mit schauerlich verfremdeter Stimme; keine Schlechtigkeit bis hin zum Verbrechen, zum Mord blieb bei ihnen ausgespart, und als das Maß ihrer Sünden endlich voll war, als selbst der Himmel, an viele Schandtaten der Menschheit durch die Jahrtausende hindurch gewöhnt, nicht mehr gleichmütig zuschauen konnte, schickte er seine Strafengel herab, die ein furchtbares Strafgericht über die Rundhofer abhielten, in Gestalt eines gewaltigen Erdbebens, durch das die Stadt Rundhof samt ihren Einwohnern auf immer ausgetilgt wurde. Alle ihre Häuser stürzten in einen gigantischen Krater, der sich während des Bebens öffnete, und verschwanden in seiner unermesslichen Tiefe, ohne eine Spur zu hinterlassen. Mit Schaudern dachte Elmar noch daran, wie seine Großmutter das Aufbrechen des Kraters mit einem fürchterlichen Gähnen verglich, zu welchem die Erde angesetzt; ungeheuer weit habe sie ihren Schlund aufsperrt und ihn anschließend nicht mehr zubekommen, weil ein Krampf in der Muskulatur des Schlundes zu einer Art ewiger Maulsperre führte, und aus dem Abgrund des Riesenloches sei allmählich, durch Sickerwasser und Zuflüsse kleiner Bäche Jahrhunderte lang gespeist, der klare Spiegel eines Sees emporgestiegen und hätte das Kraterbecken bald vollständig ausgefüllt. So also sei der Runenweiher entstanden. Staunend hatte Elmar als kleiner Junge damals dieser unheimlichen Schilderung gelauscht, und immer, wenn er als Kind an den einsamen Ufern des Sees entlangging und sich vorstellte, unter seiner regungslosen, grauen Fläche, tief unten auf zerklüftetem Grunde, lägen die Trümmer der untergegangenen Stadt samt den Überresten ihrer bösen Bewohner, so liefen ihm kalte Schauer über den Rücken, zumal wenn er an Großmutters erhobenen Zeigefinger dachte, mit dem sie ihre Warnung unterstrich, die bösen Geister der Toten stiegen zuweilen aus der Tiefe herauf, trieben dann über dem Wasser ihr Unwesen und kämen auch hin und wieder durch die Lüfte herangesaust, um das eine oder andere Menschenkind, weil es sich zu sehr dem Bösen geöffnet, zu quälen und zu piesacken. Ja, wenn es gar zu verstockt sei, wenn es kein Bitten um Verzeihen oder sonst ein liebes Wort mehr über die Lippen bringe, packten sie es und - hui!! - schleppten es mit sich durch die Lüfte und tauchten - platsch! - mitsamt dem verstockten, unverbesserlichen Kind hinab in das Reich der bösen Geister, wo es dann auf Nimmerwiedersehen verschwindet!
Es war schon ’starker Tobak’, was seine Großmutter ihnen da hin und wieder an den Kopf warf, an schrecklichen Warnungen und beängstigenden Drohungen! Und war eine solche Erzählstunde erst einmal richtig in Gang gekommen, so konnte die alte Frau, angespornt durch weit aufgerissene Kinderaugen, die nach immer neuen, noch unglaublicheren Geschichten verlangten, ihren Erzähldrang und ihre Phantasie nicht mehr zügeln; dabei scheute sie auch nicht davor zurück, verschiedene Sagenkreise, die überhaupt nichts miteinander zu tun hatten, zu vermischen. So reicherte sie eines Tages die finsteren mittelalterlichen Gestalten der Rundhofsage mit den bekannten Helden aus der Antike an, ließ Julius Caesar bis zur Steinfirstgegend vorpreschen und den angeblich auch im antiken Rom hochberühmten Rundhofweiher nicht nur besichtigen, sondern auch schwimmend durchqueren. Die Varusschlacht verlagerte Großmutter in den Steinfirstwald, unweit vom Runenweiher, und sie behauptete in entschiedenem Ton, Varus habe sich in seiner Verzweiflung nicht ins Schwert, sondern mitsamt seinen Präfekten und Tribunen in den See gestürzt, die Konsequenzen aus seiner Niederlage ziehend, die ihm nicht nur Arminius, sondern auch die Rachegötter des Himmels ob seines Hochmuts und seiner Bosheit bereitet hätten. Schließlich ließ die Großmutter noch einen dritten antiken Helden sich auf die Wanderschaft zum Runenweiher begeben: Orpheus, den begnadeten Sänger, der um Eurydike trauerte und nach der Verblichenen lechzte. Ihm sei angeblich zu Ohren gekommen, nicht der Berg Tainaros, sondern der Runenweiher sei einer der wenigen Eingangspforten zur Unterwelt, einer der wichtigsten und bequemsten. Also machte sich Orpheus von Thrakien aus auf den Weg und begab sich, von Sehnsucht nach seiner im Schattenreich weilenden Eurydike getrieben, auf eine lange Wanderschaft, bis er schließlich hierher, zum Runeweiher, kam, begleitet von Hermes, dem Götterboten, und er sei in den See hinabgetaucht und dadurch zur Geisterwelt vorgedrungen.
Diesmal allerdings, bei Orpheus, hatte sich Elmars Großmutter mit ihren phantastisch kombinierten Sagengeschichten verrechnet, das heißt, sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Knaben, welche eine Erzählrunde um sie bildeten, in der Schule schon im ersten Schuljahr von Orpheus und der Nymphe Eurydike gehört hatten, und zwar aus den Erzählungen ihrer Lehrerin, die gleichfalls fesselnd Geschichten zum besten geben konnte und eine ebenso reiche, aber doch mehr an den Tatsachen orientierte Phantasie besaß.
„Großmutter“, rief Elmar als Knabe aufgeregt und schaute sie mit ernsten, skeptischen Blicken an; „das ist gar nicht möglich, dass Orpheus hier war. Der Runenweiher ist doch erst im Mittelalter entstanden! Orpheus aber lebte viel früher, er war im Mittelalter schon lange tot.“
Die Großmutter stutzte und schaute einige Sekunden verblüfft drein. Ihr Gesicht, ohnehin schon vom Erzählen der schrecklichen Rundhofgeschichte ernst und grimmig verzogen, wurde noch um einige Grade grimmiger, was wohl von der steilen Senkrechtfalte herrührte, die wie hingezaubert auf ihrer Stirn lag und diese in zwei Abschnitte unterteilte. Der Knabe Elmar wusste, das war immer ein Zeichen, dass sie angestrengt nachdachte. Einige Sekunden saß sie so da und schien nachzugrübeln. Dann plötzlich verschwand die steile Falte, die Stirn wurde wieder einheitlich und das bitter ernste Gesicht heiterte sich auf.
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