So machte er sich also auf den Weg, und es vergingen keine fünf Minuten, bis nach einer Biegung der Dorfstraße das Forsthaus vor ihm auftauchte, und noch einmal dauerte es so lange, und er stand – nach über 20 Jahren – zum ersten Mal wieder vor dem Haus, in dem er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Eben noch, von ferne aus dem Fenster des Wagens hinüberblickend, hatte er sich gewundert, dass die lange Zeit offenbar spurlos an diesem zentralen Ort seiner Heimat vorübergegangen war. Doch jetzt, da er das Haus aus der Nähe betrachtete, bemerkte er doch gewisse Veränderungen, die ihm den Zeitablauf ins Bewusstsein hoben: Die Ahornbäume hinter dem Haus, in prachtvolles herbstliches Gelb gekleidet, schickten ihre Kronen um ein Vielfaches höher als früher in den Himmel. Auch die Blaufichte zur Rechten, einst ein kleines Bäumchen, war zu gewaltiger Höhe angewachsen, nur das Haus selbst hatte sein Aussehen kaum verändert, abgesehen von den kargen Vorhängen an den Fenstern, die auf einen nüchternen Geschmack des augenblicklichen Besitzers hindeuteten.
Er öffnete das Vorgartentor und begab sich, um das Haus herumgehend, in den hinteren Teil des Gartens, wo sich der Wintergarten befand, ein erkerhaft vorgebauter Seitentrakt, einst Ort vieler geselliger Kaffeestunden und Dämmerschoppen; der Garten selbst, für ihn als Kind eine bevorzugte Spielstätte von gewaltigem Ausmaß, kam ihm jetzt ungeheuer geschrumpft und unansehnlich vor. Auch der Wintergarten, den er früher als ein mächtiges Gebäude, fast wie ein Haus neben dem Haus empfunden, erschien ihm jetzt wie ein kleines, verkommenes Anhängsel, denn der Putz seiner Wände war rissig und die braune Farbe blätterte von seiner heruntergelassenen Rollläden ab. Noch schlimmer der Garten, der ob seines ungepflegten, vergammelten Aussehens herzzerreißend vor sich hintrauerte. Einige kahl gewordene Rhododendronsträucher fielen Elmar sofort ins Auge, da sie ihm ihre gelblichen Blätter flehentlich, kam es ihm beinah vor, entgegenstreckten, als wollten sie anklagend auf ihre Elend hinweisen, auf die fehlende Pflege und die falsche Behandlung. Von den Obstbäumen keine Spur mehr! Außer einigen kümmerlichen Beeten und den hochgewachsenen Ahornen sah man nur noch Rasen, gelblich-grün verfärbten Rasen, auf dessen Fläche sich mehr das Moos als das Gras ausbreitete. In seiner Mitte reckte ein verkrüppelter Chinawacholder seine ebenfalls kahl gewordenen Zweige in die Luft. Die hochaufgeschossenen Ahornbäume, die Sommer für Sommer tiefere Schatten verbreiteten, hatten ihm wohl das begehrte Sonnenlicht gestohlen, ihm, dem nach Sonne lechzenden Wacholderstrauch.
Wohin man blickte, überall Zeichen fehlender Zuwendung und Pflege. Überflüssig zu erwähnen, dass auf allen Beeten robuster Hahnenfuß, Quecke und Windhalm gegen vernachlässigte Erdbeerkulturen erfolgreich anwucherten, erfolgreich nicht nur gegen die Erdbeerpflanzen, sondern auch gegen allerlei Stauden- und Rosengewächse.
Aus einem der hinteren Fenster, dessen Flügel schräg geöffnet standen und das früher zu einem der beiden Wohnzimmer seiner Eltern gehörte, vernahm er Schreibmaschinengeklapper. Er ging näher heran, stieg auf einen Mauervorsprung an der Hauswand und blickte durch rauchverschmutzte Gardinen in das Zimmer. Überall an den Wänden - riesige Regale, angefüllt mit langen Reihen von Leitzordnern und dicken Bänden. Eine Bürokraft saß, ihm den Rücken zukehrend, vor einer riesigen Schreibmaschine und hämmerte unentwegt auf den Tasten herum. Neben ihr, in unregelmäßiger Anordnung aufgeschichtet, ein gewaltiger Stapel von Akten. Die Stenotypistin hielt zuweilen inne, ihre linke Hand griff nervös nach einer Zigarette, die qualmend auf dem Halter eines Aschenbechers lag; nach einem gierigen Zug setzte das Klappern der Schreibmaschine wieder ein, indessen die ausgestoßene Rauchwolke im schwebenden, das ganze Zimmer ausfüllenden Zigarettendunst aufging.
Elmar hatte genug gesehen; er sprang von dem Mauervorsprung herunter und ging in den Vorgarten zurück. Aus seinem Elternhaus war ein Bürogebäude geworden, vielleicht eine Filiale der städtischen Gemeindeverwaltung. Und richtig: Neben der Eingangstür bemerkte er jetzt ein Amtschild, das ihm vorher nicht aufgefallen war. „Wasserwirtschaftsamt Waldstädten - Bezirk Süd“ stand dort zu lesen.
Enttäuscht schloss er das Eingangstor. Sich umdrehend, warf er noch einen letzten Blick auf die ihm so wohlvertraute Fassade des Hauses mitsamt den Fenstern und ihren verschlissenen Gardinen. Hinter ihnen konnte man auch nur nüchterne Büroräume mit Regalen voller Leitzordner vermuten. Dann wandte er sich ab und ging langsam den Weg zurück zur Bushaltestelle. Der verwahrloste Garten, die kalte Büroatmosphäre in dem hinteren Zimmer, dazu die Funktionsmöbel und der ganze Bürokram - wie ernüchternd hatte alles auf ihn gewirkt, wie dämpfend auf seine Einbildungskraft. Unentwegt hatte sie ihm neue Bilder aus der Erinnerung hervorgezaubert, ständig nach neuen Anlässen gesucht, ihm noch schönere, noch phantastischere Eindrücke aus frühester Zeit zu vermitteln - musste ihr nicht jede Lust zur romantischen Rückschau abhanden kommen und auch seine Bereitschaft betäuben, noch einmal auf den Pfaden der Erinnerung zu wandeln? Ihm kam die rüde Entzauberung dieser von ihm bislang verklärten Stätte wie ein symbolischer Akt vor, wie eine einzige Metapher auf die schrittweise Desillusionierung, die er im Laufe seines Lebens über sich ergehen lassen musste: Am Anfang seines Weges, der ihn ins Leben hinausführte, bestand die Welt für ihn nur aus diesem Garten hinter dem Haus. Mit seiner Unmenge an Sträuchern und Blumenrabatten, seinen von Büschen eingefassten, verwinkelten Wegen, seinen Obstbäumen, seinen Bohnenranken und Erbsensträuchern war er für ihn, der dies alles mit den Augen des Kleinkindes betrachtete, das erste Abenteuergelände von ungeheueren Ausmaßen. Er glaubte, dieses Gelände sei die Welt, die es zu entdecken gelte, und sonst gebe es nichts anderes mehr; ein Abenteuerspielplatz, in dem alles um ihn herum schön, geheimnisvoll und beglückend war, als bewegte er sich in den verzauberten Gefilden eines Elysiums: Es blühten im Frühsommer die Rhododendren und die Rosen, die Hyazinthen und der Jasmin ließen ihre betörenden Düfte verströmen, und der Rasen war grün und dicht wie ein weiches Kissen. Seine Katze, die sich ebenfalls in diesem herrlichen Garten Eden nur wohlfühlte, schnurrte behaglich, wenn er sie graulte; er liebte sie wie einen echten Freund, und als sie eines Tages starb, weil sie etwas Giftiges gefressen hatte - seine Mutter meinte, irgendein bösartiger Zeitgenosse habe das Tier vergiftet - weinte er bitterlich, als hätte er wirklich einen echten Freund verloren; erst recht heulte er bei dem „Begräbnis“ seines Lieblings. Sein Großvater, der gerade zu Besuch weilte, ließ den toten Körper der Katze aus dem Karton, in den ihn Elmars Mutter liebevoll auf feines Seidenpapier gebettet, mit einem rüden Stoß in das ausgeschachtete Grab kullern. Elmar konnte da nicht anders, er musste ob dieses Kaltherzigkeit herzzerreißend aufschluchzen.
So also war er damals, als Kind, später auch noch als älterer Knabe: gefühlvoll, empfindsam, gutherzig, weltentrückt. Und heute? Seine Enttäuschung über den heruntergekommenen, verwahrlosten Garten, über die Zerstörung seines einstigen Paradieses ist gewaltig, genauso wie seine Enttäuschung und Ernüchterung gewaltig ist, wenn er als Erwachsener heute in die Welt hinausblickt, wenn er sie so zu verstehen sucht, wie sie in Wahrheit ist. Manchmal ist er geradezu entsetzt über den Kontrast zwischen seiner kindlich-naiven Vorstellung von einst und der Welt, die er viel später in ihrer wahren Gestalt entdeckte, eine Welt, die sich meist hinter Fassaden versteckt, weil man sonst ihre Gemeinheit, ihre Niedertracht nicht ertragen könnte. Jedoch der Drang, diese eigentlich grauenerregende Welt zu vernebeln, zu kaschieren, zu sentimentalisieren ist immer noch stark in ihm lebendig, sodass er dem Wunsch oft nachgibt, das Gemeine zu übertünchen. Dabei suggeriert er sich gleichzeitig gerne, er würde vieles vielleicht falsch sehen, die Welt sei vielleicht nur aus einer bestimmten pessimistischen Perspektive grauenerregend, oder, wie ein Philosoph einmal sagte, die Dinge an sich wären meistens weder gut noch schlecht, sondern erst durch unsere Sichtweise erscheinen sie uns gut oder schlecht. Mit solchen Sprüchen bewahrte er sich dann die letzten Illusionen, er retuschierte an dem hässlichen Bild der Erwachsenenwelt so lange herum, bis er es sich einigermaßen erträglich gemacht hatte. Das war ihm lieber, als sich dieses Bild durch eine durchweg schwarz gefärbte Sichtweise zerfetzen zu lassen, mit der Folge, dass er dann in deprimierendes, krank machendes Grübeln verfallen müsste.
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