Sie waren inzwischen im Zentrum von Enkdorf. angekommen. Holger Jörns hielt nun mit Sprechen inne, da das Rotlicht einer Verkehrsampel die zügige Fahrt unterbrach. Er sah zu Elmar herüber, ähnlich durchdringend und ausdauernd wie schon zu Beginn seiner Erzählung, so als wollte er ihn zwingen, den Kopf zu wenden, als wollte er unbedingt erreichen, dass er sich diesen Augen stellte, die sich von der Seite her förmlich in seinen Mitfahrer hineinbohrten. Doch dieser tat ihm den Gefallen nicht. Irgend etwas warnte ihn, ein unbestimmtes, aus den Schattenzonen seiner Seele aufsteigendes Gefühl, demzufolge er es vorzog, lieber geradeaus durch die Windschutzscheibe zu blicken, so als beobachte er aufmerksam, mit geradezu gespanntem Interesse das Treiben auf der Dorfstraße; wo allerdings von einem Treiben kaum etwas zu sehen war; nur ein Traktor fuhr vor ihnen her und ein alter Mann kam ihnen, einen Karren schiebend, entgegen. Endlich spürte Elmar, wie dieser lange, prüfende Blick des Journalisten, der ihm beinah physische Schmerzen bereitete, aufhörte. Die Ampel schaltete gerade auf Grün, und Jörns legte wieder den Gang ein, ließ die Kupplung los, und ab ging es über die Kreuzung in die Mitte des Dorfes hinein. Elmar aber sehnte das Ende der Fahrt herbei, denn das Gebaren seines Nachbarn zur Seite war ihm doch lästig geworden.
„Glaube mir, Elmar“, begann Jörns von Neuem, und seine Stimme verfiel in einen merkwürdig pathetischen Ton, „die Natur ist unser Schicksal. Wir sind ihr ausgeliefert, wir sind ihrer Macht unterworfen, vor allem in unserer Jugend! Und nur schwer können wir uns gegen sie wehren. Sie macht uns immer wieder einen Strich durch unsere klugen Vorausberechnungen. Denk’ nur an das Gewitter heute morgen, an die Erdmassen, wie sie an manchen Orten losbrachen. Der Laster in Waldgirmes wurde da mitgerissen, zwei Menschen sind schwer verletzt worden! Ich muss mir das gleich mal ansehen. Alle Vorkehrungen, die wir gegen diese Katastrophen treffen, alle Sicherheitsvorkehrungen, um die gewalttätige Natur im Zaum zu halten........“ Jörns überlegte kurz, suchte offenbar nach einem treffenderen Vergleich, um ihm die gefährlichen Attacken der Naturmächte plausibel zu machen, und indem er mit dem rechten Zeigefinger eine kreisende Bewegung in der Luft ausführte, sprach er weiter:
„Wir bauen Schutzdämme um unsere Behausungen, gegen die Gewalt des Meeres zum Beispiel - gut! Aber was hilft es, wenn die Natur ihre gewaltigsten Kräfte entfesselt? Wenn sie Sturmböen, Orkane und - weiß der Geier, was noch? - Springfluten, Sturmfluten, Wirbelstürme gegen uns loslässt? Sie überrollen alles, zertrümmern alles! Alles, was wir an trutzigen Bollwerken, an Dämmen, an Schutzdeichen dagegenstellen! - Und, glaube mir, Elmar, im privaten Bereich gilt das alles auch....“
Jörns unterbrach abrupt seinen leidenschaftlichen Redeerguss. Elmar kam es vor, als wollte er diesem überraschenden Schwenk seiner Gedanken, ihrem Sprung ins Innerseelische, wo die Stürme und Orkane nur symbolisch wüten, durch eine auffällige Pause Nachdruck verleihen. Vielleicht auch musste er sich nur auf den Straßenverkehr konzentrieren, der vorübergehend seine ganze Aufmerksamkeit erforderte.
„Auch im privaten Bereich schlagen die Naturmächte auf uns ein“, fuhr er fort, und seine Stimme schlug erneut einen emphatischen Ton an; „das unglückliche Mädchen, von dem ich dir erzählte...., die Natur war es, die ihm zum Schicksal wurde, die Natur und nichts anderes!“
„Und Elmar....“, er beugte sich jetzt weit zu seinem Nachbarn zur Rechten herüber, wobei sein Kopf fast den Elmars berührte und dieser heißen, übelriechenden Atem zu spüren bekam. Elmar wunderte sich, dass Jörns in dieser verrenkten Haltung überhaupt noch das Fahrzeug lenken konnte, „lass’ es dir gesagt sein!“, hämmerte es jetzt unmittelbar neben Elmars Ohr, mit unschönem Stakkato; „die Natur ist auch unser Schicksal! Sie nimmt keine Rücksicht auf Anstand, auf edle Gesinnung! Und die Moral? Das Gebot der Treue? Die Pflichten? All das zählt bei ihr nicht, alles wirft sie über den Haufen! Sie zerstört die gute Ehe, sie zerstört die beste Freundschaft, reißt Familien auseinander! Erst einmal richtig entfesselt, übt sie ihre Herrschaft über den Menschen aus - und wir? Wir hassen sie! Wir stemmen uns ihr entgegen, als unseren Feind und - sehnen sie zugleich herbei - als unsere wahre Erfüllung!“
Mit diesen starken Worten sind sie vor dem Bürgermeisteramt von Enkdorf angelangt. Beide steigen aus. Mechanisch und mit einem eher hingehauchten ’Danke schön!’ reicht Elmar seinem Bekannten von früher die Hand, denn er war förmlich erschlagen von dem Wortschwall, mit dem Jörns ihn zuletzt überrollt hatte. Das Walten der Natur schien es dem Journalisten mächtig angetan zu haben.
Jörns wünschte Elmar noch einen angenehmen Aufenthalt in Enkdorf und in Waldstädten, er sprach die Hoffnung aus, es sei doch wohl nicht das letzte Mal, dass sie sich gesehen hätten. Dann gab er ihm seine Visitenkarte, forderte ihn auf, morgen oder übermorgen bei ihm hereinzuschauen, möglichst abends, wenn es ginge; tagsüber sei er nicht anzutreffen, da sei er unterwegs oder in der Redaktion oder weiß der Geier wo! Alle seine Worte rauschten an Elmars Ohr vorbei, so rammdösig war er durch Jörns’ gewaltige Beschwörung der Natur geworden, durch das Pathos seiner Schilderungen, welches Verhängnis und Tragik schauerlich aufklingen ließen.
Noch einmal kurz grüßend, stieg Jörns wieder in seinen Wagen und brauste davon, Richtung Waldgirmes, zu der Stelle also, wo die Natur heute Morgen alle ihre Kräfte entfesselt hatte.
Immer noch benommen schaute sich Elmar im Dorf um. Der ganze Ort sah aus, als hätte er ihn erst gestern oder heute früh verlassen, und dort hinten, in jenem weißem Haus auf der Anhöhe, wohnten noch seine Eltern. Er ärgerte sich. Das wunderschöne Erlebnis der Fahrt durch den herbstlich-vergoldeten Mönchswald, dann die hübschen Ausblicke auf sein Heimatdorf, sobald der Wald auflockerte - Jörns hatte ihm alles vereitelt, da er ihn ständig mit seinem Geschwätz festnagelte. Auch sein Elternhaus, welches auf der gegenüberliegenden Seite des Tales, in dem das Dorf eingebettet lag, seine glänzend weiße Fassade vorzeigte, hatte er deshalb nur flüchtig wahrgenommen. Jetzt blickte er genauer hin: Ja, da oben stand es immer noch, ihr Haus, als ob alles so wäre wie vor über 20 Jahren und seine Eltern lebten noch da oben und erwarteten zur Mittagszeit seine Rückkehr von der Schule, und er, Elmar, wäre gerade im Begriff, nach Hause zu kommen.
Er überlegte, was er in Enkdorf alles unternehmen sollte. Gewiss, einen Gang zu seinem Elternhaus hatte er sich fest vorgenommen. Aber sollte er auch ehemalige Nachbarn oder andere Bekannte im Dorf aufsuchen? Wenn sie überhaupt noch lebten, nach so vielen Jahren! Am ehesten die gleichaltrigen Spielgefährten seiner Kindheit, aber auch sie mochten das Dorf, dieses abgelegene Nest hinter den Wäldern, schon vor langer Zeit verlassen haben. Außerdem, die Jahrzehnte, die hinter ihnen lagen - hatten sie nicht das Aussehen der Menschen verändert, in einem Maße verändert, dass ein Wiedererkennen erst unter großen Mühen, nach langen Erklärungen zu erwarten wäre? Er dachte in dem Augenblick nicht an Holger Jörns, der ihn ja in Waldstädten auf Anhieb erkannte und das ungeachtet all jener Veränderungen, welche die Zelt in seinem Gesicht, an seiner Figur, an seinem ganzen Habitus ganz sicher verursacht hatte. Waren es also Lustlosigkeit oder Bequemlichkeit, dass er auf eine umständliche Wiedererkennungsprozedur, wie er sie erwartete, gerne verzichtete? Oder war es die Scheu, alten Bekannten unter die Augen zu treten, ihnen, die einiges über seinen Werdegang wussten, die vielleicht mehr über ihn wussten, als ihm lieb war, genauso Rechenschaft ablegen zu müssen wie gegenüber dem Journalisten Jörns, Rechenschaft vielleicht noch über diese und jene unangenehmen Kapitel seines Lebensromans oder über die fern der Heimat, in der Fremde geschriebenen Kapitel? Sei es, wie es sei! Elmar beschloss, seine Wege sollten ihn - außer zu dem Forsthaus - nur noch zu einem Waldsee führen, der ihm einst ein besonders lieber Ort war, und zu sonst niemandem mehr.
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