1 ...8 9 10 12 13 14 ...32 „Aha, das leuchtet ein, leuchtet vollkommen ein!“, erwiderte Jörns und schaute Elmar mit seinen Schlitzaugen lange verstohlen von der Seite an, als wollte er dessen Gesichtsausdruck prüfen, ob dieser vielleicht mehr als die eben glatt formulierten Erklärungen preisgab, mehr an eigentlichen Beweggründen und innersten Gedanken. „Weißt du, Elmar, ich will ehrlich sein: Ich dachte, es hätte da einen anderen Grund gegeben; aber, na ja, man soll halt nicht denken, nicht wahr? Das heißt, man soll nicht spekulieren; sonst liegt man allemal daneben!“
Jörns räusperte sich auffällig und schaute angestrengt auf die nassgeregnete Landstraße, als erwarte er dort ein Hindernis oder ein Schlagloch, dem es auszuweichen gelte. „Anderseits gibt es .Leute“, begann er von neuem, „und das ist gewiss keine Spekulation von mir, denen wird die Heimat einfach zu eng; die Decke fällt ihnen auf den Kopf - du weißt, Tapetenwechsel ist manchmal ein gutes Mittel, um Abstand zu bekommen, Abstand von ...., sagen wir: Konflikten, die..... einen belasten, die einem das ganze Leben in einer bestimmten Umgebung vermiesen. Aus dieser Umgebung muss man dann einfach raus, und zwar so schnell wie möglich! - Ich möchte dir mal ein Beispiel geben...., pass’ auf!“
Die Erzählung von der verlassenen Braut
Jörns zögerte einen Moment, wohl um sich die Gedanken zurechtzulegen, dann fuhr er fort:
“Also, in Waldstädten wohnte einmal eine mir bekannte Familie; ich kannte sie zwar nur flüchtig, aber in unserer Kleinstadt ist man ohnehin mit allen mehr oder weniger flüchtig bekannt. Die Tochter - ihr Name spielt keine Rolle - war verlobt, mit einem Angestellten der hiesigen Volksbank. Die beiden wollten bald heiraten. Alles war schon für die Hochzeit vorbereitet, die Aussteuer schon - äh - wie sagt man? - bereitgestellt, der Hochzeitstermin stand fest, der Pfarrer war unterrichtet, der Standesbeamte in Kenntnis gesetzt, und selbstverständlich hatten die Verlobten auch das Aufgebot bestellt. Da passierte etwas Schreckliches, Katastrophales: In das Verlöbnis brach - ich möchte fast sagen: mit elementarer Gewalt ein anderes Mädchen ein - man sagte, es wäre die beste Freundin der Braut gewesen, ein bildschönes Mädchen, eine kleine Helena - weißt du. Und Helena machte die Beziehung kaputt, spannte der Braut den Bräutigam aus, brachte die Hochzeit zum Platzen!“
Jörns schlug, während er die letzten Sätze sprach, mit der Rechten zweimal aufs Lenkrad, dass es laut und dumpf im Wagen knackte; mit weit aufgerissenen Augen blickte er dabei geradeaus, als befürchte er den Irrlauf eines Tieres oder er erwarte jeden Augenblick die Rückleuchte eines Schwerlasters, dem es auszuweichen gelte.
„Nun, die Geschichte ist gewiss tragisch“, fuhr er mit seiner Erzählung fort, „tragisch für das verlassene Mädchen, für die sitzen gelassene Braut, aber so ganz ungewöhnlich ist sie ja auch wieder nicht, meine ich! Denn bekanntlich kommt es öfter vor, dass die eine der anderen den Freund ausspannt - oder umgekehrt! So läuft das nun mal im Leben, die Liebe ist halt etwas arg Unbeständiges, etwas - wie soll ich sagen? - Flatteriges - wir wissen das ja aus eigener Erfahrung, mit unseren diversen Thusneldas, nicht wahr? Ha, ha, ha, ha!”
Das schallende Lachen des Erzählers ging in ein Meckern über, was in Anbetracht des tragischen Gegenstandes unangemessen und taktlos anmutete.
„Nun, das einzig Ungewöhnliche an dieser Geschichte war vielleicht, dass alles so kurz vor der Hochzeit passierte. Ich glaube, so was kommt doch relativ selten vor, nicht? Ganz außerordentlich selten, kann man sogar sagen! - Aber, pass’ auf, Elmar, etwas noch Selteneres, ich möchte fast sagen: Sensationelles passierte dann außerdem noch in unserer Geschichte! Jetzt meinst du wohl, die beiden Mädchen seien mit dem Messer aufeinander .losgegangen. Oder jedenfalls die eine, die betrogene, auf die andere, oder sie hätte sich mit Mord und Totschlag am verräterischen Bräutigam gerächt, was? - Nein, ganz so schlimm, ganz so blutrünstig ist die Geschichte nicht ausgegangen! Zunächst geschah etwas, was noch nicht gar so aufregend, aber doch immerhin bemerkenswert war: Die Familie der Braut und diese natürlich selbst haben sich die Treulosigkeit und die Blamage so zu Herzen genommen, dass sie mit Sack und Pack von Waldstädten wegzogen; sogar das Haus haben sie verkauft, der Vater ließ sich von der Firma versetzen; das Mädchen, das in Waldstädten berufstätig war, ebenfalls. Die ganze Sippe hat sozusagen sämtliche Zelte abgebrochen und ist auf und davon! - Aber jetzt kommt es, das eigentlich Aufsehen Erregende, das Beispiellose - pass auf!“
Holger Jörns hob den rechten Zeigefinger und blitzte Elmar Redlich mit seinen Schlitzaugen von der Seite an.
„Bevor die Familie also aus Waldstädten regelrecht flüchtete, sprach die verlassene Braut - also man soll’s nicht glauben! Man soll’s nicht glauben! - sie sprach in mehreren angesehenen Familien vor, beschuldigte ihre Freundin, sie habe ihr Verlöbnis kaputtgemacht, sie wolle das den Familien, sagte sie, offiziell zur Kenntnis geben! Verstehst du: offiziell! - Tja, was sagst du nun, Elmar? Ist das nicht.... Das ist so ungefähr das Dollste, was mir hier, in unserer Provinz, je zu Ohren gekommen ist - vergleichsweise, sagen wir, vergleichsweise! Es gibt natürlich noch ganz andere Sachen, aber so etwas! Eine, der der Bräutigam ausgespannt wurde, geht von Haus zu Haus und beschwert sich, gibt ihre Blamage auch noch offiziell......., nein, so ’was habe ich noch nicht gehört!“
Der Mann am Steuer legte eine Pause ein, als hätte ihm diese Sensation die Sprache verschlagen, umständlich griff er mit seiner Rechten in seine Hosentasche und zog ein großes Schnupftuch hervor, mit dem er sich über die vom vielen Reden feucht gewordenen Lippen und über die Stirn fuhr. Dann setzte er seine Erzählung fort:
„Nun, so ganz unlogisch war diese Melde-Aktion der verlassenen Braut auch wieder nicht. Man muss nämlich eins wissen: Das kleine, süße Biest, diese...äh....besagte Helena, nicht wahr, die auf so brutale Weise Schicksal spielte - sie stammte aus einer der angesehenen Familien von Waldstädten. Damit wird die Aktion der Braut ziemlich klar: das Biest sollte angeprangert werden, es sollte Druck auf die Familie ausgeübt werden, dass sie der kaltschnäuzigen Ausspannerin ins Gewissen redet. Und der Bräutigam sollte eventuell wieder zurückgelotst werden. Ein Appell war das sozusagen, ein Appell an den Anstand des Bräutigams; an sein - wie sagt man? - an sein Schuldgefühl, nicht? - Tja, die Familie des betrogenen Mädchens ist dann, wie gesagt, auf und davon, nach einer kurzen Zeit des Abwartens - glaube ich; aber der Verflossene machte leider keine Anstalten, zur Braut zurückzukehren - war also nichts mit dem Zurücklotsen, was? Ha, ha, ha, ha! - Sie sind dann, soviel ich weiß, nach Hamburg gezogen, gewissermaßen in die große Welt hinaus....“
Holger Jörns hatte gerade die Scheinwerfer angestellt, denn es war in dem Waldstück, das sie durchfuhren, und wegen neu aufgekommener Bewölkung etwas dunkel geworden. Der Scheinwerferkegel des Kraftwagens erfasste kurz darauf das Ortseingangsschild von Enkdorf. „Waldstädten, Ortsteil Enkdorf“ las Elmar den altvertrauten Namen. Um sich von den unguten Gefühlen, die Jörns mit seiner Geschichte, mehr noch mit seinem meckernden Lachen bei ihm auslöste, freizumachen, schaute er aufmerksamer durch das Wagenfenster, beobachtete die ersten Häuser des Dorfes, wie sie schattenhaft und flüchtig an ihnen vorbeiglitten.
„Tja, Elmar“, ließ sich Jörns nach einer längeren Pause wieder vernehmen. Er schien seine Geschichte beendet zu haben und wollte offenbar zu einer Bewertung, zu einem Resümee übergehen. „Du siehst, es gibt auch andere Gründe, seine Heimat zu verlassen!“, resümierte er; „wie soll ich’s nennen? Verletzter Stolz? Gekränkte Familienehre? Unerträglicher seelischer Schmerz, den man durch einen Ortswechsel zu lindern sucht? Vielleicht war das alles nicht so ausschlaggebend, aber mitgespielt hat es bestimmt, zumindest der seelische Schmerz! Man wollte zu neuen Ufern, zu einem Neuanfang, weit weg von dieser total verkorksten Sache, von diesem ... in die Binsen gegangenen Verlöbnis!“
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