Paolo kam aus der Küche, setzte sich ans Klavier und fragte “Musetta?” Nora konnte nur nicken. Und sang die Musetta. Sie schloss die Augen und sah Klaus wieder, wie er an jenem Abend zu ihr aufgeblickt hatte. Und wie er vorhin allein die Straße entlang getrottet war. Sie konnte nicht verhindern, dass ihr die Tränen kamen. Die Stimme fing an zu wackeln. Aber nur ganz kurz. Nora war Profi. Tosender Applaus nach ihrer Arie. Fabrizio nahm ihre Hände: „Dio mio, so hab’ ich das von dir noch nie gehört! Grazie mille. Und der Abend heute geht auf’s Haus! Buon appetito!“ Nora straffte die Schultern, strahlte in die Runde und begann zu essen. Erzählte lustige Anekdoten von den Kollegen und sang später noch einmal. Um Mitternacht auf der Terrasse, bei Eiseskälte, küsste sie Mark innig und sagte ihm, wie sehr sie sich darauf freue, seine Frau zu werden. Und in diesem Moment meinte sie es so.
Als Nora im neuen Jahr nach Coburg zurückkam kam, war Klaus nicht mehr am Theater, hatte Nora aber beim Pförtner eine Nachricht hinterlegt. Er habe kurzfristig einen lukrativen Job in Italien angeboten bekommen, und sofort zugeschlagen. Er schloss mit den Worten, dass er Nora liebe, und sie für immer in seinem Herzen tragen werde. Mit brennenden Augen starrte Nora auf die Notiz in ihrer Hand. Dann knüllte sie den Zettel zusammen.
Das Jahr schritt voran, und die Hochzeitsvorbereitungen liefen auf Hochtouren. Nora und Mark hatten sich gegen einen Polterabend entschieden, wollten dafür aber sämtliche Freunde, Bekannten und Verwandten zur Hochzeit einladen. Mark fuhr durch die Gegend und sah sich zahlreiche Festsäle an. Schließlich fand er die perfekte Örtlichkeit; ein altes Weingut mit großer Scheune, die bequem alle Gäste fassen konnte. Mark übernahm die komplette Organisation der Hochzeit. Sein erstes Referendariatsjahr begann zwar nach den Sommerferien, aber bis dahin hatte er frei. Und Nora hatte in Coburg viel zu tun, ihre erste „Zauberflöten“-Pamina stand an. Mark wusste ganz genau, wie Nora sich ihre Hochzeit vorstellte, und plante dementsprechend. Nora wollte alles unter einen Hut bringen. Alle Menschen, die bis jetzt in ihrem Leben eine Rolle gespielt hatten, sollten Zeugen sein, wie sie an Marks Arm in ihr neues Leben schritt. Bach musste gespielt werden, die Musik, die Nora begleitet und beschirmt hatte. Psalmen und Lieder mussten erklingen, Beschwörungsformeln, die Nora ihre Sicherheit zurück geben sollten. Choräle, oft gesungen, Psalmen, oft gesprochen. Aus diesen Worten strömte für Nora die Kraft, mit der sie sich wappnen wollte. Und mit der sie am Tag der Trauung eine Bastion von vertrauten Klängen und Worten errichten wollte, um geschützt zu sein. Geschützt vor Anfechtungen, uneinnehmbar.
Drei Wochen vor der Hochzeit begannen in Coburg die „Zauberflöte“-Proben. Nora war glücklich. Schon in ihren ersten Vorsingen hatte sie immer die gefürchtete Arie der Pamina gesungen, sie kannte die Klippen dieser musikalisch und stimmlich höchst anspruchsvollen Partie und konnte sie versiert umschiffen. Sie war bereit für Pamina. Als Tamino stellte man ihr einen Gasttenor zur Seite. Julius sah unglaublich gut aus, und als er zum ersten Mal in einer Probe seine Bildnis-Arie aussang, fiel sogar der strengen Regieassisstentin Maike der Bleistift aus der Hand. Julius’ Stimme war samtig, dunkel und männlich. Er sang locker und ohne Druck, ganz anders als die meisten Tenöre. Nora brannte lichterloh. Sie versank im Reich der Phantasie, spann sich Geschichten mit sich und Julius zurecht, nahm die Geschichten mit zu den Proben und flocht sie in ihre Interpretation der Pamina ein. Nora wusste, dass das nur eine Schwärmerei war, die niemandem schadete und ihr guttat. Schließlich war Julius ihr erster Tamino. Und Klaus war endlich weg aus ihren Gedanken. Als Nora in der Generalprobe in silbrigem pianissimo „Tamino mein“ sang, und ihren Tamino mit soviel Liebe und Hingabe anblickte, spürte jeder im Saal, wie die Uhren stehen blieben. Manch einer vergaß zu atmen, manch einer wischte verstohlen eine Träne weg. Nach der Premiere verabschiedete Nora sich mit einer langen, innigen Umarmung von Julius, weil das Theater ihn aus Kostengründen nur für die Premiere engagiert hatte.
Nora fiel ins Premierenloch, aber nur einige Tage. Nach zwei weiteren Vorstellungen mit Frank als Tamino verblasste die Erinnerung an Julius, und Nora richtete ihre Konzentration wieder auf die bevorstehende Hochzeit. Mit ihrem Brautkleid im Gepäck fuhr sie nach Mannheim. Nervös und glücklich. Das Kleid hatte sie in einem Coburger Geschäft gefunden. Ihr Traumkleid. Genau so, wie sie es sich immer vorgestellt hatte.
Am Tag der standesamtlichen Trauung schüttete es wie aus Eimern, und die Zeremonie war langweilig und staubtrocken. Aber das störte die Jungvermählten nicht. Für beide fand die eigentliche Hochzeit erst am nächsten Tag in der Kirche statt, mit allen Freunden und Verwandten. Nach dem Standesamt luden Anton und Angelika das Brautpaar und Noras Familie zum Mittagessen ein, danach fuhr Nora mit ihren Eltern nach Hause. Sie wollte es genau so machen, wie sie es sich schon immer ausgedacht hatte: die letzte Nacht würde sie nicht mit Mark zusammen verbringen.
Am Morgen der Hochzeit war es zwar kühl, aber sonnig. Nora ging zum Friseur und ließ sich ihren Blumenschmuck ins Haar flechten. Zuhause zog sie ihr Kleid an und strahlte vor Glück. Es sah genauso aus wie in ihrem Traum. Dann fuhr Papa sie zur Kirche. Es war schon spät, alle Gäste waren bereits in der Kirche. Mark stand allein draußen und wartete auf seine Braut. Als er sie erblickte, bekam er feuchte Augen. Nun wurde auch Nora nervös. Sie war eine Bühnendarstellerin, und sie wollte, dass ihre Inszenierung perfekt klappte. Alles sollte genau so sein, wie sie es geplant hatte. Das Orgelvorspiel brauste. Schon vor Jahren hatte Nora entschieden, dass diese Orgelphantasie von Bach eines Tages bei ihrer Hochzeit erklingen sollte. Und an welcher Stelle der Musik sie dann mit ihrem Bräutigam die Kirche betreten wollte. Beim Einzug kamen schließlich auch ihr die Tränen. Aber sie weinte nicht vor Glück, weil sie nun endlich Marks Frau wurde, sondern weil alle gekommen waren. Weil sie es geschafft hatte, Kindheit, Studium und Coburg für diesen einen Tag unter einen Hut zu bringen. Die Zeitebenen überlappten sich, die Emotionen schwappten über.
Dann formierte sich der Chor. Nora und Mark blieb der Mund offen stehen. Alle Hochzeitsgäste, die irgendetwas mit Musik zu tun hatten, stellten sich vorne auf, und die gewaltigen Klänge erschütterten das Kirchenschiff. Überwältigt und erschöpft gaben Mark und Nora sich das Jawort. Nach der Trauung standen alle Gäste vor der Kirche beim Bier. Nora war glücklich. Alles klappte so reibungslos. Auch bei der Feier auf dem Weingut gab es keine Panne. Es war ein traumhaftes Fest. Alles stimmte, die Gäste fühlten sich wohl. Man tanzte und trank bis in den Morgen hinein. Außer Nora, denn sie hatte am nächsten Tag eine Nachmittagsvorstellung „Zauberflöte“ in Coburg. Die Vorstellung hatte sich nicht verschieben lassen, und schließlich hatte Mark sich resigniert damit abgefunden. Nora verabschiedete sich um Mitternacht von ihren Gästen. Sie wollte auf Nummer sicher gehen, denn ein wichtiger Agent hatte sich zur Vorstellung angesagt. Zufrieden und nüchtern fiel sie ins Bett.
Am nächsten Tag gab es ein spätes Katerfrühstück für alle Hochzeitsgäste. Die frischgetraute Ehefrau war längst weg und saß glücklich in der Maske. Alles hatte geklappt. Allen hatte es gefallen. Sie streckte die Beine aus und schloß die Augen. Dann stellte sie fest, dass sie und Mark gestern nicht viel voneinander gehabt hatten. De facto hatten sie eigentlich nur den Walzer zusammen getanzt, und sich danach gar nicht mehr gesehen. Unbehaglich rutschte Nora auf dem Sessel hin und her und nahm schließlich einen Schluck Kaffee. Sie blickte nachdenklich in den Spiegel. Sie hatte es am Morgen überhaupt nicht bedauert, ihr Hochzeitsfest nicht mit dem gemeinsamen Frühstück abschließen zu können. Sie hatte sich auf Coburg gefreut, auf die Vorstellung. Nora atmete tief durch und schob das ungute Gefühl, das sie eben hinterhältig beschlichen hatte, entschieden weg. Sie war Sängerin, und da galt es, Opfer zu bringen. Und außerdem kümmerte Mark sich ja um alles. Er würde die Gäste verabschieden und die Geschenke ins Auto packen. Es war ja auch keine große Sache. Alle hatten Verständnis für Nora und ihre berufliche Situation gehabt. Zufrieden schloss Nora die Augen und überliess sich dem weichen Schwämmchen der Maskenbildnerin.
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