Für Nora begann eine furchtbare Zeit. Obwohl sie wusste, dass außer dem Kuss nichts passiert war, fühlte sie sich schuldig und beschmutzt. Sie hatte das Gefühl, Mark betrogen zu haben. Und fühlte sich gleichzeitig so stark zu Klaus hingezogen, dass sie sich zwang, ihn zu meiden. Sie hatte panische Angst davor, in den letzten Tagen der Spielzeit doch noch schwach zu werden, und floh nach Mannheim zu Frau Hartmann. Die hörte sich alles an und wurde sehr ernst. Sie erklärte Nora, dass es nicht in Ordnung war, wie Mark sich verhalten hatte, dass er ihrer Meinung nach Nora emotional verhungern lasse. Frau Hartmann sprach Nora von jeglicher Schuld frei. Nora verließ die Praxis halbwegs beruhigt und fuhr zurück nach Coburg. Sie meldete sich im Theater für die letzten beiden Tage krank, packte ihren Koffer und stieg ins Auto, ohne sich von Klaus verabschiedet zu haben. Sie wollte weg von ihm, weg von seinen Augen und seiner Liebe. Weit weg von der Versuchung. Sie wollte zu Mark, denn irgendetwas lief nicht gut. Sie nahm sich vor, Mark alles zu erzählen, obwohl sie große Angst vor seiner Reaktion hatte.
Als Nora in Kapstadt aus dem Gate kam, und Mark sie durch die Glasscheibe anlachte, war die Angst weg. Vertraut fühlte es sich an, als wäre er gestern erst geflogen. Trotzdem wollte sie Mark möglichst schnell ihren Fehltritt beichten. Nora flog in Marks Arme. Er nahm ihr den Koffer ab und ging plaudernd voran zum Parkplatz. Mark fuhr durch Kapstadt, als hätte er nie woanders gelebt. Nora sah die townships; unüberschaubar große Flächen vollgepfercht mit dreckigen, kaputten Blechhütten. Mark erzählte von den Menschen, die er dort kennengelernt hatte. Nora beneidete Mark um seine Einblicke und bewunderte ihn grenzenlos für seinen Mut und seine Sicherheit.
In Jules Haus angekommen, blieb Nora vor Staunen der Mund offen stehen. Ein wunderschönes, großes, helles Gebäude tat sich auf, mit Holzboden, Kamin, einer großen Küche und einem schicken Badezimmer. Wie konnte eine Frau in Jules Alter sich so ein Haus leisten? “Die sind hier nicht teuer”, meinte Mark und öffnete die Fenster. “Und Jule verdient gut bei Thyssen.” Nora strich bewundernd mit den Händen über den steinernen Kaminsims. “Wann lerne ich sie kennen?”, fragte sie. “Sie ist diese Woche in Deutschland bei ihrer Familie", sagte Mark und grinste. "Und gottfroh, dass jemand währenddessen ihr Haus und ihr Auto hütet!” Dann zog er Nora an sich. Sie schafften es gerade noch bis in Jules Schlafzimmer, bevor sie hungrig übereinander herfielen.
Danach kuschelte Nora sich an Mark und schloss einen Moment die Augen. Es fühlte sich so gut an neben ihm. Sie beschloss, dass jetzt der richtige Moment gekommen war, um Mark alles zu gestehen. Sie setzte sich auf, wickelte sich ins Leintuch und erzählte stockend, und von vielen Schluchzern unterbrochen, was passiert war. Mark beruhigte sie, gab ihr ein Taschentuch und nahm sie in die Arme. “Bist Du nicht sauer?”, schniefte Nora an Marks Schulter. “Nein, es ist doch nichts passiert!”, sagte er beruhigend und streichelte ihr Haar. “Für solche Schmeicheleien bist Du eben anfällig. Ist doch nicht schlimm!“ Er lachte. “Aber sehr wählerisch warst du ja nicht gerade mit diesem Klaus!” Nora schluckte, sie hatte das Bedürfnis, Klaus verteidigen zu müssen. Aber wie sollte sie Mark klarmachen, was Klaus ihr gegeben hatte. Was sie bei Mark so oft vermisst hatte. Sie löste sich von Mark und wischte sich die Tränen ab. “Ich danke dir. Du bist so ein toller Mann. Verständnisvoll und tolerant.” Die Tränen liefen schon wieder, und Mark umarmte Nora lachend. Dann schob er sie auf Armeslänge von sich und meinte: “Aber du hast es dir ja ganz schön gut gehen lassen, guck‘ mal, ich komm‘ mit den Armen kaum um dich rum! Stehen dir aber nicht schlecht, die paar Kilos!“ Nora erschrak. Natürlich hatte sie nicht auf ihr Gewicht geachtet, weil sie sich die letzten Wochen so attraktiv und geliebt gefühlt hatte, wie schon lange nicht mehr. Sie biss sich auf die Lippe. Klaus hatte ihr jeden Morgen auf seinem Weg zum Theater eine Tüte Croissants vor die Tür gelegt, die sie mit einem seligen Wohlgefühl verdrückt hatte. “Keine Panik“, meinte Mark gähnend, “Nächste Woche werden wir viel unterwegs sein, da gehen die Pfündchen von alleine runter, ich helfe dir!“ Nora murmelte ihren Dank und verschwand im Bad. Sie fror. Wie konnte sie sich attraktiv gefühlt haben, fett, wie sie geworden war.
In den ersten beiden Tagen zeigte Mark Nora Kapstadt. Sie bummelten an der Waterfront entlang, saßen stundenlang im Sportscafé und redeten. Sie fuhren zum Kap der Guten Hoffnung und fütterten Pinguine. Abends trafen sie sich mit Kathi und ihre weißen Freunden in edlen Restaurants. Nora war glücklich. Zwischen Mark und ihr war es wunderbar, und sie dachte nicht mehr an Klaus.
Mark und Nora flogen nach Namibia. Sie mieteten einen riesigen allradbetriebenen Jeep, auf dessen Dach man schlafen konnte und fuhren los, in Richtung Etosha-Wüste. Unbeschreibliche Tage, ungeahnt intensive Momente stellten sich ein. Tagsüber saßen Mark und Nora im Auto an den Wasserlöchern und warteten auf die Tiere. Manchmal redeten sie, und oft schwiegen sie nur, aber es war ein gutes Schweigen. Nora hatte sich noch nie so entspannt gefühlt. Tiere beobachten, das hatte sie zum letzten Mal im Zoo mit zwölf Jahren getan, und nun konnte sie nicht genug davon bekommen. Alles verlor an Bedeutung, wurde klein und unwichtig, wenn die Giraffe sich breitbeinig hinstellt, ihren langen Hals zum Wasserloch navigiert und trinkt. Nachmittags steuerten sie dann eine der Lodges an, um dort zu übernachten. Viele Lodges hatten beleuchtete Wasserlöcher. Nach dem Abendessen setzten Mark und Nora sich mit einer Flasche Bier zu den anderen schweigenden Gästen, die schon am Wasserloch saßen und auf die Tiere warteten. Frühmorgens ging es dann wieder auf die Straße. Oft musste man das Auto stoppen, um eine Elefantenherde die Straße überqueren zu lassen. Oder weil ein Zebra auf der Kreuzung stand, vor sich hinblickte, und sich nicht vom Fleck bewegte. Und am dritten Tag, gegen mittag, sahen sie eine Löwenherde. Eine Familie, die in der Sonne lag und schlief. Dann und wann wackelte ein Ohr, ab und zu zuckte eine Schwanzspitze.
Nach einer Woche machten Mark und Nora sich auf den Rückweg nach Windhoek. Die Reise war lang und sie beschlossen, noch zweimal unterwegs zu übernachten, und einen kleinen Umweg über Swakopmund zu machen. Die erste Nacht verbrachten sie in einer luxuriösen Lodge, in der sie durch Zufall noch ein Zimmer bekommen hatten. Sie schliefen in Lehmhütten, die jedoch aufs Feinste ausgestattet waren. Nora lag am Pool, ließ sich von einem farbigen Butler Bier servieren, und fragte sich ständig, ob sie das alles vielleicht nur träumte. Die Reise war unbeschreiblich, und sie konnte all die Eindrücke des fremden Landes gar nicht abspeichern, so voll war sie davon. Und mit Mark war sie einfach nur glücklich.
Die zweite Nacht verbrachten Mark und Nora auf ihrem Autodach. Zuerst war es romantisch; Feuer machen, Sonnenuntergang, und dabei zischend Bierdosen öffnen. Sobald es aber, von einer Minute auf die andere, dunkel geworden war, ging der Lärm der Wildnis los, und Mark und Nora flüchteten sich aufs Dach, wo sie eng aneinander gekuschelt lauschten. Das war ein Stampfen, ein Schreien und Jaulen; ein großes Tier trampelte gemächlich ganz nah am Auto vorbei, das konnte Nora nicht nur hören, sondern auch riechen. Sie schauderte, fiel aber irgendwann in einen unruhigen Schlaf.
In Swakopmund nahmen sie sich ein Hotel und bummelten dann durch den Ort. Viel zu sehen gab es nicht, und seltsam war es obendrein: die Straßen hatten alle noch deutsche Namen, in vielen Restaurants und Hotels hing gerahmt an der Wand das „Südwester-Lied“. Die Leute sprachen alle deutsch, und irgendwie, fand Nora, hatte das mit Afrika gar nichts zu tun.
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