Am nächsten Tag flogen Mark und Nora nach Deutschland. Nora hatte sich höflich von Jule verabschiedet, und war voraus gegangen zum wartenden Taxi. Sie hatte Mark bewusst allein gelassen, damit er sich von Jule verabschieden konnte. Als Mark nach zehn Minuten immer noch nicht kam, stiegen Nora die Tränen in die Augen. Das Hochgefühl des vergangenen Abends war verpufft. Mark und Jule küssten sich vermutlich gerade. Nora schloss die Augen. Dann merkte sie, wie Mark sich neben sie setzte und die Autotür zuschlug. Es war vorbei. Sie konnte nach Hause. Und sie konnte nach Coburg zurück. Nora wischte sich die Tränen ab. Im Flugzeug bestellte Mark Sekt bei der Stewardess und erneuerte seinen Heiratsantrag. Er wollte Nora im folgenden Sommer, nach Abschluss seines Studiums, heiraten. Und Nora wollte das auch. Sie stießen an. Dann lehnte Nora sich erleichtert im Sitz zurück und schloss die Augen. Sie hatte gewonnen.
Die Spielzeit begann, und Nora reiste nach Coburg. Kaum hatte sie das Theater betreten, sah sie Klaus mit einigen Kollegen am schwarzen Brett stehen. Ihr Herz begann unkontrolliert zu schlagen. Aber sie hatte sich entschieden. Sie wollte Marks Frau werden. Sie schluckte, trat auf Klaus zu und begrüßte ihn herzlich. Die anderen Techniker, die dabei standen, zogen sich diskret zurück. Klaus sah Nora an und Nora erschrak. Denn sie sah in seinen Augen, dass sich an seinen Gefühlen für sie nichts geändert hatte. Hastig begann sie zu erzählen. Von Südafrika und den Tieren, von Kapstadt und von der geplanten Hochzeit. Klaus hatte sich gut im Griff. Er gratulierte Nora, umarmte sie freundschaftlich, und ging Richtung Kantine. Erleichtert blickte Nora ihm nach.
Die “Lustige Witwe” wurde wieder aufgenommen. Nora freute sich auf die Vorstellungen. Und sie freute sich darauf, Klaus weiterhin um sich zu haben. Aber Klaus zog sich komplett zurück. Er stand bei den Proben nicht mehr auf der Seitenbühne, und mied Nora im Theater, wo er konnte. Nora vermisste ihn. Gestand es sich ein und versuchte, dagegen anzukämpfen. Aber es gelang ihr nicht. Die Vorstellungen machten ohne ihn keinen Spaß. Sie vermisste seine Bewunderung. Und sie hatte Angst, ihn verletzt zu haben. Bei der dritten Vorstellung jedoch öffnete sich die Tür zur Seitenbühne. Nora drehte automatisch den Kopf. Es war Klaus. Er lehnte sich ans Inspizientenpult und schlug die Arme übereinander. In dem selben Moment sagte auf der Bühne Danilo zur Witwe Hanna: “Velieb’ dich oft, verlob’ dich selten, heirate NIE!” Klaus lächelte Nora zu und schüttelte ganz leicht den Kopf. Dann verließ er die Seitenbühne wieder. Und Nora wusste, das Klaus ihr verziehen hatte.
An Silvester kam Mark mit seinen Eltern und Hermann nach Coburg. Auch Noras Eltern hatten sich entschieden, ihre Tochter an diesem Abend als Valencienne in der Gala-Vorstellung “Witwe” zu erleben. An Silvester wurde dem Coburger Publikum immer etwas besonderes geboten, und so waren die Sänger vor der Vorstellung angehalten, sich in Paaren, bereits kostümiert, im Foyer zu ergehen.
Nora flanierte gut gelaunt und aufgeregt mit ihrem Bühnenpartner Albi durch die Menge der Zuschauer, und hielt nach ihrer Familie Ausschau, die sie schließlich mit Sektgläsern bewaffnet an der Treppe stehen sah. Strahlend rannte Nora auf sie zu. Sie fiel allen um den Hals und stellte ihren Partner vor. Dann merkte sie, dass Mark nicht dabei war. “Er sucht dich!”, zwitscherte Angelika. “Schon die ganze Zeit, er konnte dich bis jetzt nicht finden!” Nora schluckte. Ihre gute Laune begann zu bröckeln. Es gongte zum ersten Mal, und Nora verabschiedete sich. “Wir sagen ihm, dass wir dich gesehen haben!” rief Anton ihr nach. Nora winkte und zog Albi hastig Richtung Bühne. Sie musste Mark vor Vorstellungsbeginn unbedingt noch abfangen. Doch er war nicht aufzutreiben.
Die Vorstellung begann. Nora spielte wie eine Besessene. „Verlieb‘ dich oft, verlob‘ dich selten, heirate NIE!“ Obwohl sie eigentlich nicht wollte, drehte sie den Kopf und erblickte Klaus, der lächelnd den Kopf schüttelte. Ihre nächste Textzeile musste die Souffleuse liefern, so konfus wurde Nora. Nora zwang sich zur Konzentration. Schließlich saß Mark im Zuschauerraum.
Nach der Vorstellung zog Nora sich völlig erschöpft in ihre Garderobe zurück. Sie sehnte sich danach, einfach den Kopf auf den Tisch zu legen und zu heulen. Mark klopfte und trat ein. Nora sah seine Augen. Ihr Herz zog sich zusammen. Er lehnte sich betont lässig ans Fenster und sagte kühl: “Ich hätte dich gern vor der Vorstellung noch gesehen." Nora sagte hastig: ”Ich war doch im Foyer!” “Ja”, unterbrach Mark. Seine Stimme klang gefährlich ruhig. “Das haben deine Kollegen auch behauptet!” “Was?” fragte Nora verständnislos. Ihr wurde kalt. “Ich hab’ dich in der Kantine gesucht, in der Garderobe und hinter der Bühne. Marianne sagte dann, du seist im Foyer. Da warst du aber offensichtlich nicht, sonst hätte ich dich ja gesehen!” Seine Augen wurden schmal. “Wo warst du also wirklich?” Nora sprang auf. Ihre Stimme überschlug sich: “Ich war im Foyer, deine Eltern haben mich doch gesehen!” Zornige Tränen sprangen in ihre Augen. “Was glaubst du eigentlich! Spinnst du? Mich so zu verdächtigen! Kurz vor der Vorstellung ... in einer Beleuchterloge, oder was?" Nora ließ sich auf ihren Stuhl fallen und begann hemmungslos zu schluchzen. Mark fiel in sich zusammen. Schließlich ging er auf Nora zu, und berührte sie am Arm, doch sie schüttelte seine Hand ab. “Nora, es tut mir leid, ich weiß doch, dass du im Foyer warst. Ich war nur so unsicher wegen diesem Klaus.” Nora wischte sich müde die Tränen ab und blickte Mark an. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Mark fuhr fort, bestrebt um Wiedergutmachung. “Ich glaub dir doch alles, was du mir sagst! Bitte, sei mir nicht böse!” Er gewann seine Sicherheit zurück. Nora nickte. Sie spürte nichts als Erschöpfung. Und eine vage Erleichterung, dass es so glimpflich abgelaufen war. Sie stand auf, gab Mark einen Kuss auf die Wange und begann sich abzuschminken. Mark trat hinter sie und legte die Arme um ihre Taille. Er flüsterte in ihr Haar: “Du warst wirklich richtig gut! Dieser Klaus stand sicher irgend wo ‘rum, und hat nur auf deine Beine gestarrt!“ Nora schluckte, rang sich ein Lächeln ab, und warf den Wattebausch in den Mülleimer. Mark gab ihr einen Kuss: ”Ich warte draußen!” Er verließ die Garderobe. Nora blickte lange in den Spiegel. Ihr Kopf war leer.
Die Familie wartete auf der anderen Straßenseite, bei den Autos. Nora gab beim Pförtner ihren Schlüssel ab und trat nach draußen. Ihre Eltern winkten. Nora schickte sich gerade an, die Straße zu überqueren als sie Klaus sah. Mit hochgeschlagenem Mantelkragen, gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern ging er mutterseelenallein nach Hause. Mit trockenen Augen starrte Nora ihm nach. Ihr Kehlkopf brannte vor unterdrückten Tränen. Aber sie hatte sich entschieden. Und auf der anderen Straßenseite wartete ihre Familie. Und Mark. Sie atmete tief durch, riss ihren Blick los von der einsamen Gestalt, die eben aus ihrem Blickfeld verschwand, und spurtete über die Straße.
Nora ließ sich umarmen, alle redeten begeistert auf sie ein, bis sie sich schließlich lachend losmachte. Dann fuhren sie gemeinsam zu Fabrizio, wo Nora einen Tisch reserviert hatte. Als sie das Restaurant betrat wurde Nora schwindlig. Mit Klaus war sie zum letzten Mal hier gewesen. Nach der Schubert-Premiere. An dem Abend hatte er sie geküsst. Nora mußte sich am Türrahmen festhalten. Mark umfasste sie lachend. “Hey, wir haben doch noch gar nicht angestoßen!” Nora zwang sich zu lächeln und murmelte: “Kreislauf”. Fabrizio kam mit einem Tablett voller Champgnergläser aus der Küche und geleitet sie zu ihrem Tisch. Kaum hatten sie den ersten Schluck auf Nora getrunken fragte Fabrizio: „Nora, ti prego, singst du was?“ Abwehrend hob Nora die Hände. Aber der Laden war voll, und die Stimmung phantastisch. Und eigentlich wollte sie Fabrizio danken, denn er hatte er diesen Abend möglich gemacht, obwohl das Restaurant längst ausgebucht gewesen war. Sie nickte.
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