Petra Labitzke
Pamina hat Hunger
Opernroman
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Inhaltsverzeichnis
Titel Petra Labitzke Pamina hat Hunger Opernroman Dieses ebook wurde erstellt bei
Oktober 2001, Generalprobe Oktober 2001, Generalprobe Gegen zwei Uhr morgens verlässt sie das Theater. Die Generalprobe an diesem Abend war ein großer Erfolg; sie hatte die Partie zum erstenmal komplett ausgesungen und fühlte sich überhaupt nicht heiser. Der Regisseur hatte keine szenischen Verbesserungsvorschläge für sie, der Dirigent hob nur im Vorbeigehen den Daumen und rief „Bis Samstag!“ Sein Assistent blätterte zwar aufgeregt in seiner Kladde, aber es gab keine musikalischen Korrekturen für sie. Sie ließ ihr Bühnen-Make-up drauf und begab sich in die Kantine zu den Kollegen. Sie trank drei Weißbier und aß nichts. Wieder nichts. Sie fühlte sich leicht, schlank, begabt und geliebt. Sie tänzelt durch den stillen, schwarzen Park. Es ist schön, hier nachts allein zu sein. Und dann kommt es. Es kommt wieder ohne Vorwarnung, aber natürlich ist sie vorbereitet. Sie sieht im frühen Oktober-Morgennebeldunst die Brücke, fahl beleuchtet, dahinter schemenhaft ihr Haus, und beschleunigt ihren Schritt. Was nun kommen wird ist nötig, zwingend notwendig. Sie weiß, sie muß es hinter sich bringen, sonst würde sie nicht schlafen können. Nun rennt sie fast, hört sich wie von ferne selber wimmern, „nein, nein!!“ Mit fliegenden Fingern schließt sie die Haustür auf, hastet nach oben. Sie macht das Küchenlicht an, zieht den Mantel aus. Sie hat jetzt alle Zeit der Welt, denn sie weiß, es würde passieren. Die CD, die sie braucht, liegt obenauf. Die Tracknummer hat sie im Kopf; Charlottes Arie „Les larmes qu‘on ne pleure pas“ aus Massenets “Werther”. Ungeweinte Tränen fallen in die Seele zurück. Alkohol hat sie genug im Blut, dieser Teil der Vorbereitung kann also übersprungen werden. „Va, laisse couler mes larmes“. Sie ist nur noch eine Membran, fühlt sich durchlässig für alle Emotionen der Welt, ist alle Gefühle aller Menschen. Denn inzwischen steht sie in der Küche und hat sich mit dem Brotmesser die ersten Schnitte in Unterarm und Oberschenkel beigebracht. Es tut viel weniger weh als man vermuten würde. Dann kommt das Blut. Nicht viel; dünne, rote Fäden. Sie begibt sich ins Bad und setzt sich auf den Rand der Badewanne, unverrückbarer Teil des Rituals. Sie tupft das Blut mit Toilettenpapier und Wattepads ab. Fürsorglich, mitleidsvoll. Jetzt kann sie schlafen.
1991-1995 Nora und Mark
Nora
Nora und Mark 1995 bis 1997
Marcello 1997
Oktober 2001, Tag vor der Premiere
Mark 1997
Nora 1997 / 1998
1998 / 1999 Henk
Oktober 2001, Premierentag
Johannes 2000
Mark 2000
Johannes 2000
Nora 2000
Oktober 2001, Premierenfeier
Nora und Mark 2000
Oktober 2001, Der Tag nach der Premiere
Rick 2001
Nora und Mark 2001/ 2002
Sven 2002
April 2005, Epilog
Impressum neobooks
Oktober 2001, Generalprobe
Gegen zwei Uhr morgens verlässt sie das Theater. Die Generalprobe an diesem Abend war ein großer Erfolg; sie hatte die Partie zum erstenmal komplett ausgesungen und fühlte sich überhaupt nicht heiser. Der Regisseur hatte keine szenischen Verbesserungsvorschläge für sie, der Dirigent hob nur im Vorbeigehen den Daumen und rief „Bis Samstag!“ Sein Assistent blätterte zwar aufgeregt in seiner Kladde, aber es gab keine musikalischen Korrekturen für sie. Sie ließ ihr Bühnen-Make-up drauf und begab sich in die Kantine zu den Kollegen.
Sie trank drei Weißbier und aß nichts. Wieder nichts. Sie fühlte sich leicht, schlank, begabt und geliebt.
Sie tänzelt durch den stillen, schwarzen Park. Es ist schön, hier nachts allein zu sein. Und dann kommt es. Es kommt wieder ohne Vorwarnung, aber natürlich ist sie vorbereitet. Sie sieht im frühen Oktober-Morgennebeldunst die Brücke, fahl beleuchtet, dahinter schemenhaft ihr Haus, und beschleunigt ihren Schritt.
Was nun kommen wird ist nötig, zwingend notwendig. Sie weiß, sie muß es hinter sich bringen, sonst würde sie nicht schlafen können. Nun rennt sie fast, hört sich wie von ferne selber wimmern, „nein, nein!!“
Mit fliegenden Fingern schließt sie die Haustür auf, hastet nach oben. Sie macht das Küchenlicht an, zieht den Mantel aus. Sie hat jetzt alle Zeit der Welt, denn sie weiß, es würde passieren.
Die CD, die sie braucht, liegt obenauf. Die Tracknummer hat sie im Kopf; Charlottes Arie „Les larmes qu‘on ne pleure pas“ aus Massenets “Werther”. Ungeweinte Tränen fallen in die Seele zurück. Alkohol hat sie genug im Blut, dieser Teil der Vorbereitung kann also übersprungen werden. „Va, laisse couler mes larmes“.
Sie ist nur noch eine Membran, fühlt sich durchlässig für alle Emotionen der Welt, ist alle Gefühle aller Menschen.
Denn inzwischen steht sie in der Küche und hat sich mit dem Brotmesser die ersten Schnitte in Unterarm und Oberschenkel beigebracht. Es tut viel weniger weh als man vermuten würde.
Dann kommt das Blut. Nicht viel; dünne, rote Fäden. Sie begibt sich ins Bad und setzt sich auf den Rand der Badewanne, unverrückbarer Teil des Rituals. Sie tupft das Blut mit Toilettenpapier und Wattepads ab. Fürsorglich, mitleidsvoll.
Jetzt kann sie schlafen.
Mark warf wütend die Paukenschlegel zur Seite und begann damit, seine Instrumente abzubauen. Er war verunsichert, und das Gefühl mochte er nicht. Diese Sopranistin. Studentin in Mannheim, genau wie er. Er kannte sie flüchtig, hatte aber nie ein Wort mit ihr gewechselt. Sie flatterte immer aufgeregt, mit perlendem Lachen, durch die Mensa, was Mark enorm auf die Nerven ging. Dennoch. Sie hatte ihre Arien vorhin beim Pfingstkonzert mit einer Innigkeit gesungen, die ihr divenhaftes Auftreten Lügen strafte, und ihm die Tränen in die Augen getrieben hatte. Und deshalb hatte er sie angesprochen, als sie vor wenigen Minuten mit ihrem Gefolge zwitschernd die Kirche verlassen hatte.
Auf Marks Kompliment hin hatte Nora sich nur kurz umgedreht, ihm unverbindlich zugenickt, und sich dann beim Tenorsolisten untergehakt. Eine solche Reaktion hatte Mark nicht erwartet, und er wurde sauer. “Arrogante Ziege!”, dachte er. “Und dieses lächerliche Tenörchen”, er musste an sich halten um nicht laut herauszuplatzen. “Wie wenn Bruce Lee ihn von hinten mit einer Holzstange gewürgt hätte, so hat der geklungen”, dachte er. “Guter Vergleich!”
Grinsend deckte Mark seine Pauken ab. Er hatte eine ausgeprägte Schwäche für Kung-Fu-Filme und zitierte auch gerne den Terminator: “Komplizierte Probleme verlangen nach einfachen Lösungen.” Das war sein Lebensprinzip, und er fuhr nicht schlecht damit. Mark polarisierte. Manche seiner Kommilitonen vergötterten ihn, andere hatten regelrecht Angst vor seiner scharfen Zunge, und wiederum andere, der kleinste Teil, belächelte ihn. Aber jeder Student der Mannheimer Hochschule kannte ihn. Er hob sich ab aus der grauen Menge der Musikstudenten. “Würgeholztenor”, dachte Mark. So würde er dieses armselige Würstchen ab sofort nennen. Grinsend bugsierte er die Pauken in sein Auto.
Seit dem Konzert vor Pfingsten bekam Nora Mark nicht mehr aus dem Kopf. Er war eigentlich gar nicht ihr Typ, dünn und blond, wie er war. Aber er hatte ihr keine Wahl gelassen, denn jedes Mal, wenn sie sich seitdem zwischen Mensa und Fahrstuhl begegneten, rief er ihr etwas flapsiges, ironisch-anzügliches hinterher. Sie schaffte es nicht lange, ihre blasierte Haltung, die zur Gesangsstudentin gehört wie Lippenstift und Evian-Flasche, ihm gegenüber aufrecht zu erhalten, denn er brachte sie zum Lachen.
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