Mark war hinter die Bühne gekommen, um ihr zu gratulieren. Just in dem Moment umarmte Nora den attraktiven Bariton-Kollegen, weil der vor Kurzem Vater geworden war. Mark hatte auf dem Absatz kehrtgemacht. Gegen Mitternacht hatte er dann bei Nora geklingelt, und sich zerknirscht entschuldigt. Nora erinnerte sich, dass sie dann mit Mark geschlafen hatte, dankbar, dass alles gut ausgegangen war. Aber das Konzert und ihren großen Erfolg hatte er ihr kaputt gemacht. “Ich hab’ nicht kapiert, warum du ihm das einfach so verziehen hast”, sagte Frauke und gähnte. “Aber was hat das alles mit Vera zu tun?” Nora blickte sie ernst an und sagte langsam: “Ich glaube, dass Mark eine Abhängige braucht. Eine Frau, für die er, ich weiß nicht, sowas wie ein Heilsbringer ist. Die seine Worte trinkt und zum Evangelium erhebt. Klingt das total absurd?“ Frauke lachte: “Nein, überhaupt nicht. Das ist die perfekte Charakterisierung unseres grauen Mäuschens!” Sie sprang vom Sims. ”So. Ich brauch jetzt dringend Koffein! Kommst Du mit?” Noch am selben Abend tat Nora Mark ihre Beobachtungen kund. Es gab Tränen, Geschrei und, zu guter Letzt, erschöpften Sex. Mark gab Nora in allen Punkten recht und versprach, den Kontakt zu Vera einzuschränken.
Nora und Mark bereiteten sich auf ihre Abschlussprüfungen vor. Nora beendete ihr Grundstudium, Mark seine Schlagzeug-Semester. Beide schlossen unter dem tosenden Applaus ihrer Freunde und Familienmitglieder mit „Sehr gut“ ab. Nora überlegte, in der Opernklasse ein Aufbaustudium anzuschließen. Nach wie vor war sie der Star der Hochschule, und der Opernschulleiter hatte schon vor Wochen angedeutet, sie nehmen zu wollen.
Mark begann sein Germanistik-Studium an der Uni, aber seine Gedanken kreisten immer öfter um Vera. Es hatte ihm immer gut getan, wenn Frauen sich ihm anvertrauten, und er ihnen das Gefühl geben konnte, sie zu verstehen. Jan hatte vor einiger Zeit grinsend zu Mark gesagt: ”Wie machst Du das? Ohne Mühe geben die dir den Zugangscode zu ihrem Innersten, echt beneidenswert!” Mark hatte damals gelacht, aber mittlerweile beschlich ihn immer öfter ein mulmiges Gefühl. Es bereitete ihm keine Schwierigkeiten, eine Frau abhängig zu machen. Aber was dann? Längst war ihm nämlich klar, dass eine Frau wie Vera ihn auf Dauer nur langweilen würde, Bewunderung hin oder her. Ebenso klar war ihm, dass Nora recht gehabt hatte, als sie ihm wegen Vera so den Kopf gewaschen hatte. Und vermutlich war seine Mutter die Wurzel allen Übels. Mark war intelligent genug, die Verbindung herzustellen. Die beengte Wohnsituation mit Angelika und ihrem Lebensgefährten Hermann hatte ihn eigentlich nie gestört, aber jetzt spürte er, dass er sich dem Einfluss seiner Mutter entziehen musste, um sein Problem in den Griff zu bekommen. Denn wenn er ehrlich war, war nach wie vor seine Mutter die Person, mit der er sein Leben teilte.
Vor wenigen Tagen hatte Mark Nora zum ersten Mal von seiner Familie erzählt. Nora hatte versucht, ihre Erschütterung vor Mark zu verbergen, es war ihr aber nicht gelungen. ”Kein Wunder”, dachte Mark bitter. Mit zwölf hatte Mark das erste Mal Schmiere vor dem Pfarrhaus gestanden, denn seine Mutter hatte sich in den Priester verliebt. Ornat und heilige Worte ließen ihr Herz höher schlagen, das war schon immer so gewesen. Mark verstand das damals alles noch nicht richtig. Mit gesenktem Kopf schaute er am Fenster des Pfarrhauses vorbei. Was drinnen passierte wollte er lieber nicht so genau wissen. Mark hätte sich keine Sorgen machen müssen, denn seine Mutter Angelika verabscheute alles, was mit dem menschlichen Körper und seinen Ausscheidungen zu tun hatte. Warum sie ihren Mann Anton geheiratet hatte, vermochte sie längst nicht mehr zu sagen. Manchmal tat sie so, als lebe sie im 19. Jahrhundert, in einem großen Schloss. Sie liebte historische Romane, vor allem Seeräuberromanzen mit schlüpfrigen Liebsszenen, die ihren Bedarf an Körperlichkeit mehr als deckten.
Ihr Mann Anton rettete sich in zynische Bemerkungen und verschanzte sich hinter seiner Doktorarbeit. Warum er Angelika geheiratet hatte, wusste er nicht mehr. Sie hatte ihm gefallen, mit ihren Spitzenhandschuhen und der gezierten Sprechweise. Dass es für Angelika nur einen einzigen Mann gab, ihren großen Bruder Walter, hatte Anton gewusst, sarkastisch kommentiert, und nicht weiter ernst genommen. Die Ehe von Marks Eltern stand unter keinem guten Stern. Anton war mittlerweile Doktor der Philosophie an der Freiburger Uni, trotzdem hatte er ständig das Gefühl, gegen den großen Walter, Bankvorstand und Millionär, nur ein kleines Licht zu sein.
Angelika konzentrierte sich mehr und mehr auf Mark, ihren Buben. Die Rollen wurden vertauscht. Mark beriet Angelika beim Kauf ihrer Schuhe, Mark wählte die Ohrringe zum Kleid seiner Mutter. Mit seinem Vater verbanden ihn lediglich die Boxkämpfe, die er nachts mit ihm sehen durfte. Mark verinnerlichte jeden Haken, jede Finte, und übte sie später heimlich in seinem Zimmer. Dann wurde er Ministrant bei Pater Hermann und die Wachen auf dem Parkplatz fingen an. Marks Vater lachte nur hässlich, als er davon erfuhr. Höhepunkt der grausamen Scharade war der gemeinsame Urlaub der Familie mit Pater Hermann, der inzwischen zum Freund der Familie avanciert war.
Irgendwann hatte die Ehe von Anton und Angelika einen Grad an Baufälligkeit erreicht, der nicht mehr reparabel war. Hermann trat die Flucht nach vorne an und fand eine Gemeinde mit Pfarrwohnung in Mannheim. Angelika verließ Anton und Freiburg, und suchte sich eine hübsche Wohnung im Mannheimer Süden, finanziert vom großen Bruder Walter. Angelika war vollkommen glücklich. Hermann hatte zwar seine eigene postalische Adresse, lebte aber de facto mit Angelika zusammen. Mark war nach seinem Abitur in Freiburg mit nach Mannheim gekommen. Vor die Entscheidung zwischen seinen Freunden in Freiburg und seiner Mutter in Mannheim gestellt, hatte er Angelikas Tränen nicht standhalten können. Er zog mit ihr und Hermann in die Drei-Zimmer-Wohnung.
Noras Entsetzen, als er ihr vor wenigen Tagen seine Geschichte erzählt hatte, hatten tiefen Eindruck auf Mark gemacht. Vor allem als ihm klar wurde, dass sich im Prinzip nicht viel geändert hatte: er fällte nach wie vor keine Entscheidung ohne Angelika, fuhr mit Hermann und ihr in den Urlaub, und beriet seine Mutter bei der Wahl ihrer Ohrringe. Und er hatte immer nur Frauen mit nach Hause gebracht, die Angelika gnädig abnickte. Persönlichkeitsarme ja-Sagerinnen wie Vera, oder Mädchen wie Dagmar, die eine Mama brauchten.
Mark beschloss, Nägel mit Köpfen zu machen, sich eine eigene Wohnung zu suchen, und endlich Nora seiner Mutter vorzustellen. Lange genug hatte er den Kontakt vermieden, weil er geahnt hatte, wie seine Mutter auf Nora reagieren würde. Mark lud Angelika zu einem Vortragsabend von Noras Gesangsklasse ein. Angelika war begeistert von Nora. “Dieses Timbre”, flüsterte sie Mark während Noras erster Arie zu, “Wie die junge Freni!” Mark nickte nur, hin-und hergerissen zwischen Erleichterung und Panik. Wie sollte er Angelika beibringen, dass die junge Freni seit zwei Monaten das Bett mit ihrem Buben teilte? In der Pause schwärmte Angelika weiter. “Weißt Du Mark, auch die Ausstrahlung dieser Nora ist die eines Stars. Die anderen Sängerinnen können ihr absolut nicht das Wasser reichen!” Mark blickte betreten in sein Sektglas.
Nach dem Konzert machte er die beiden Frauen mit klopfendem Herzen bekannt. Angelika war begeistert, den Star des Abends kennenzulernen, hakte Nora unter und flötete Komplimente. Mark nahm seinen ganzen Mut zusammen, legte den Arm um Nora und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Nora sah ihn überrascht und ungläubig an. Sie lachte laut und sagte: “Was war das denn für ein Kuss?” Dann zog sie ihn an sich und küsste ihn voll auf den Mund. Angelikas Augen wurden schmal. Aber nur für einen Moment. Schließlich war Nora eine begnadete Sängerin, die alle anderen Studenten an diesem Abend um Längen geschlagen hatte. Und wer wusste schon, wie lange ihr Junge und sie überhaupt zusammmen bleiben würden. Angelika zwang das Lächeln in ihr Gesicht zurück.
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