Nora schleuderte den Putzlappen gegen das Küchenfenster und brach schluchzend zusammen. Sie hatte soviel Liebe in dieses neue Konzept gesteckt: Das Nest mit Mark. Erschöpft wischte sie sich die Tränen ab und trank ein großes Glas Wasser. Dann fasste sie einen Entschluss. Was Mark tat, wie er sich entschied und wer sich heimlich darüber freute, das konnte sie nicht beeinflussen. Das einzige was Nora tun konnte war, ihr eigenes Leben zu planen, das Mark momentan nicht mit ihr teilen wollte. Sie füllte das Glas noch einmal und trank. Tränen tropften auf die blank geputzte Arbeitsfläche. Sie fühlte sich so kraftlos. Alle Energie war in Umzugskisten verpackt. Nora setzte sich auf den Küchenboden und machte Bestandsaufnahme: sie hatte ihre eigene Wohnung, immerhin. Dann erinnerte sich Nora daran, dass sie nach ihrer Abschlussprüfung eigentlich mit dem Gedanken gespielt hatte, sich in die Opernklasse aufnehmen zu lassen. Bis jetzt hatte sie sich nie vorstellen können Opern zu singen, weil sie immer nur Kirchenkonzerte gemacht hatte. Aber warum eigentlich nicht? Nur würde sie dann nicht mehr so viel verfügbare Zeit für Mark haben. Nora seufzte. Das war heute anscheinend der perfekte Tag für schmerzhafte Nabelschau. Sie gestand sich ein, immer Rücksicht auf ihn genommen zu haben. Mit Terminen, Plänen oder Entscheidungen. Plötzlich fielen ihr unzählige Situationen ein, in denen sie aus Sorge um seine Befindlichkeiten gegen ihr eigenes Gefühl entschieden hatte.
Entschlossen stand sie auf und stellte das Glas in die Spüle. Dann rief sie im Hochschulsekretariat an und meldete sich zur Prüfung an. Erleichtert legte sie den Hörer auf. Sie fühlte sich viel besser, und überlegte bereits, welche Arien sie zur Prüfung vorbereiten könnte. Energisch riss sie das Klebeband vom Umzugskarton mit der Aufschrift “Noten” und kippte die darin befindlichen Klavierauszüge auf den Boden. Nach einer Stunde hatte sie rote Wangen und drei Arien ausgewählt, die sie mit ihrem Lehrer ausprobieren wollte.
Jetzt merkte sie, wie hungrig sie war. Im Stehen machte sie sich ein Brot und kaute nachdenklich, bis ihr Blick auf einen Zettel fiel, den Mark vor einigen Tagen mitgebracht hatte. Darauf stand die Telefonnummer einer Psychotherapeutin, von der Mark viel gehört hatte. Er hatte Nora nahegelegt, einen Termin mit ihr zu vereinbaren. Nora warf das angebissene Brot auf den Teller und zerknüllte den Zettel. Wieder Mark. Vor Wut hätte Nora am liebsten laut geschrien. Bestand sie aus gar nichts Eigenem mehr? Zornig zerrupfte sie den Zettel in winzige Stücke. Natürlich hätte sie gern jemandem die Situation mit Mark geschildert. Nora wusste auch, dass sie den Ursachen der Darmgeschichte auf den Grund gehen sollte. Laut Mark war ihr “kranker Perfektionismus” Schuld an der Krankheit. Immer die Beste sein zu wollen, zu müssen. „Aber wäre ich ohne diesen Perfektionismus eine so gute Sängerin?”, fragte Nora sich. “Immer gut vorbereitet und pünktlich? Kann man ohne das Streben nach Perfektion überhaupt Karriere machen?” Karriere. Und genau das wollte Mark nicht. Nora ließ die Schnipsel zu Boden rieseln. Plötzlich war ihr so übel. Mit wem konnte sie eigentlich reden? Wem ihre Gefühle schildern? Vermutlich war sie selber, genau wie Vera, nur eine Marionette. Und Mark der begnadete Spieler. Nora ließ sich zu Boden gleiten und vergrub das Gesicht in den Händen. Als sie wieder aufblickte strahlte die Sonne in die Küche. Nora blinzelte zur Küchenuhr. Zwei Stunden war sie so gesessen. Müde legte sie die Schnipsel des zerrissenen Zettels zusammen. Frau Hartmann, stand da. Mit einiger Mühe stand Nora auf und ging zu Telefon. Sie hatte Glück, für den kommenden Vormittag hatte ein Patient abgesagt. Nora beendete das Gespräch und blieb mit dem Hörer in der Hand stehen. Sie schluckte die Tränen hinunter. Vielleicht würde sie ja mit Hilfe von Frau Hartmann ein Gespür dafür entwickeln, wer sie eigentlich war. Sie ließ den Hörer sinken. Alles schien sich aufzulösen. Lebenslang eingeübte Strukturen im Nebel. Ein Gerüst aus Stäben war sie nur noch. Hatte sie jemals etwas getan, was sie selber gespürt hatte? Oder war sie ein Lautsprecher, der nur Ideen und Wünsche anderer verstärkte?
Nora bestand die Aufnahmeprüfung für die Opernklasse mit Bravour. Mark erzählte sie davon erst Tage später, als sie ihn zufällig in der Mensa traf. Sie hatte ihn nach der letzten Begegnung in ihrer Wohnung nicht angerufen. Er hatte sich zwar alle paar Tage gemeldet um zu wissen, ob sie klar käme, aber Nora hatte jedes Mal gereizter reagiert. Irritiert hatte Mark sich zurückgezogen. Nora hatte Angst, ihn zu verlieren, wusste aber ganz genau, dass diese Zeit wichtig für sie war. Nur wenn Mark spürte, dass sie eine eigenständige Person mit einem eigenen Leben war, würde er auf Dauer den Respekt vor ihr behalten.
Als sie jetzt bei der Essensausgabe hinter ihm stand fühlte sie sich stark genug, ihm gegenüber zu treten. Nora balancierte ihr Tablett an einen freien Tisch, und bedeutete Mark, sich zu ihr zu setzen. Sie aßen zusammen, redeten aber kaum. Dann holte Nora zwei Kaffee und lächelte Mark an. Erleichtert rührte er Zucker in seinen Kaffee und berichtete von den vergangenen Wochen. Er hatte schnell eine Wohnung gefunden und seinen Onkel Walter davon überzeugt, die Wohnung als Kapitalanlage zu kaufen. Dann begann Nora zu erzählen; von der Opernschule und ihren wöchentlichen Terminen bei Frau Hartmann. Sie plauderte begeistert, berichtete von Freunden und Bekannten, von Kino und Oper, von Bars, die sie unbedingt mit Mark zusammen besuchen wollte. Und vom Kammerchor, in dem sie seit kurzem sang. Noras Augen leuchteten als sie davon erzählte. Der charismatische Dirigierprofessor, der den Chor leitete, hatte sie persönlich eingeladen. Sie schwärmte: “Weißt du, in diesem perfekten Klang aufzugehen, eine von vielen zu sein, gemeinsam diese Musik zu erzeugen, das ist unbeschreiblich. Und besser, als alleine vorne zu stehen!” Mark sah sie neugierig an. Spielte sie eine Rolle oder hatte sie sich tatsächlich binnen zwei Wochen derartig verändert? Nora erzählte weiter. ”Na ja, eigentlich läuft es solistisch jetzt so gut, dass ich natürlich keine Chorkarriere einschlagen werde. Aber die Leute da sind so nett...” Nora redete weiter, Mark hörte nicht mehr zu. Er betrachtete sie. Schlank sah sie aus, strahlend. Und er vermisste sie. Der Gedanke, allein in der neuen Wohnung zu leben machte ihm Angst, aber das konnte er ihr nicht sagen.
Nora sang. Sie, die für Oper nie viel übrig gehabt hatte, ging im neuen Studiengang komplett auf. Sie belegte alle Fächer, die es gab: Kostümkunde, Operngeschichte, Körpertraining, Fechten und Vorsingtraining. Nach wenigen Monaten konnte sich Nora ein Leben ohne Oper nicht mehr vorstellen. Zur Opernschule gehörte ein kleines Theater, in dem jedes Jahr eine Opernproduktion zur Aufführung kam. In historischen Kostümen, mit Maskenbildnern und Bühnenaufbauten, einer Premiere und anschließenden Vorstellungen. In diesem Jahr stand Mozarts „Figaros Hochzeit“ auf dem Programm. Nora war als Kammerzofe Susanna besetzt. Als sie ihren Namen auf der Besetzungsliste las, schrie sie vor Begeisterung, fiel dem schüchternen Tenor-Kollegen um den Hals und tanzte durchs Treppenhaus. Susanna. Der Olymp des Soprangesanges. Die Traumpartie aller Sängerinnen würde ihr Debüt sein! Nora stürzte sich mit Feuereifer in ihre Aufgabe. Sie probte, übte, und verbrachte ganze Tage im Gebäude der Opernschule. Die ungewohnte und fordernde szenische Arbeit machte ihr großen Spaß und die Partie der Susanna war Nora auf den Leib und in den Hals geschrieben.
Zwischen Nora und Mark war inzwischen alles wieder in Ordnung. Sie sahen sich nicht oft, aber schließlich stand Nora kurz vor ihrer ersten großen Premiere. Außerdem hatte sie eisern an ihrem Vorsatz fest gehalten, Mark nicht mehr Tag und Nacht zu Verfügung zu stehen. Und dann machte Mark aus heiterem Himmel Schluss. Nora war glücklich und verschwitzt nach dem Fechten nach Hause gekommen. Mark hatte vor ihrer Wohnung gewartet, mit kalten Augen und vor der Brust gekreuzten Armen. Mit zitternden Fingern hatte Nora die Tür aufgeschlossen. Mark hatte sich nicht einmal hingesetzt. Hatte Plattitüden von sich gegeben, die Nora den Boden unter den Füßen weggezogen hatten. „Du bist nicht die Frau, mit der ich den Rest meines Lebens ... “ „In letzter Zeit ... keine Gemeinsamkeiten ... “, “ ... nicht mehr die Nora, in die ich mich verliebt habe ... “ „Oper, Oper, Oper ... fremd geworden ... “ Trotz aller Schwierigkeiten, die sie und Mark in den letzten Monaten gehabt hatten, traf sie dieser Schlag völlig ohne Deckung. Sie brach zusammen und fühlte ihr mühsam erarbeitetes Selbstbewusstsein der letzten Wochen verpuffen. „Mark”, flehte sie, um Fassung bemüht, ”Sag mir jetzt und hier, dass du mich nicht mehr liebst!“ Mark blickte ohne zu blinzeln in Noras Augen. “Ich liebe dich nicht mehr. Tut mir leid, aber es geht nicht mehr.“ Dann verließ er ihre Wohnung.
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