Die ersten Tage verdrängte Nora was passiert war, mit dem Rest an Kraft, den sie noch zur Verfügung hatte. Verbissen stürzte sie sich in ihre „Figaro“-Proben. Nach einer Woche wurde sie zum Direktor der Opernschule zitiert. Vorsichtig schlich er um den heißen Brei. Ob etwas vorgefallen sei, was ihren dramatischen Leistungsabfall rechtfertige. Die Regisseurin sei sehr unzufrieden und überlege, eine andere Susanna zu besetzen. Benommen taumelte Nora aus seinem Büro. Sie hatte alles gegeben, trotz ihrer schweren Lage. Verzweifelt vergrub sie sich zu Hause im Bett. In der Nacht schlief sie kaum, aber als sie am nächsten Morgen vor dem Spiegel stand, fasste sie einen Entschluss. Keine andere würde die Susanna singen. Bis zur Premiere waren es noch zwei Wochen, und sie würde dem Chef und der Regisseurin beweisen, dass sie zurecht besetzt war. Mark hatte sie verlassen. Aber das würde sie nicht ihre Premiere kosten. Zaghaft lächelte sie ihrem blassen Spielgelbild zu und machte sich auf den Weg zur Hochschule.
Noras Premiere war ein großer Erfolg. Sie hatte sich wieder gefangen und lieferte ein sehr gutes Debut ab. Und sie spürte, wie stark Oper sein kann. Ob Schmerz, Hass oder Liebe: auf der Bühne konnte sie ihre Gefühle freilassen, sich ihnen ohne Angst hingeben, denn niemand fühlte sich angegriffen oder wandte sich ab. Im Gegenteil: die Zuschauer waren ergriffen. Mozarts Musik und die Kraft ihrer eigenen Stimme gaben Nora ein Ahnung davon, was sie sein wollte, und was ihr gut tat. Die unbeschreibliche Erfahrung als Susanna gab ihr Gewissheit darüber, was sie zu leisten imstande war, und was ihr Leben ab sofort bestimmen würde.
Jan und Gerd besuchten eine Vorstellung und schleppten Nora danach total begeistert in ihre Lieblings-Jazzkneipe. Sie hörten gar nicht auf zu schwärmen, und Nora genoss die Komplimente, ihre Freunde, den Alkohol und die Musik. Sie wirkte so entspannt und selbstbewusst, dass Jan sich nichts dabei dachte, vom gemeinsamen Kinobesuch mit Mark zu erzählen. „Und rate mal, wen er dabei hatte? Sein Schoßhündchen Vera!“ Überrascht registrierte Nora, wie sehr sie diese Information immer noch schmerzte. Dabei hatte sie eigentlich längst damit gerechnet. Sie ließ sich nichts anmerken, tat Jans Bemerkung mit einem Achselzucken ab, und zog ihn zur Tanzfläche. Danach verabschiedete sie sich, theatralisch gähnend, und lehnte dankend seine Begleitung für den Heimweg ab. Die Fäuste in den Taschen rannte sie nach Hause. Wieder und wieder turnten die selben Fragen durch ihr Hirn. Was sollte das mit Vera. Vera war nicht das, was Mark wollte oder brauchte. Er wollte Nora. Nora spürte das, obwohl er sie verlassen hatte. Aber was war so furchtbar schief gelaufen? Nora war so sicher, dass es klappen könnte mit ihr und Mark, weil das Problem nicht sie war, sondern er. Er mit sich. Wütend kickte sie einen Stein bis vor ihre Wohnungstür und nahm sich vor, Mark ein letztes Mal zur Rede zu stellen, Antworten zu fordern, auf die sie ein Recht hatte.
Wenige Tage später traf sie ihn in der Mensa. Ihr Herz schlug Rad, aber sie schaffte es, ihn ruhig um ein kurzes Gespräch zu bitten. An einem leeren Tisch in der Ecke sagte sie ihm, was sie dachte. Was sie fühlte, und was ihrer Meinung nach der eigentliche Grund für die Trennung gewesen sei. Sie hatte nichts zu verlieren. Sie war stark. Sie hatte gespürt, was Susanna spürt. Hatte wie Susanna gekämpft. Mark brach zusammen und heulte. Kurz entschlossen zog Nora ihn aus der Mensa und bugsierte ihn in einen leeren Schlagzeugraum.
Und dann brach es heraus aus ihm. Dass er sich gefangen fühlt. Gefangen im Zwang, Frauen gefallen zu müssen. Dass er Frauen braucht, als Rat suchende, am Leben und den Männern verzweifelnde, austauschbare Veras. Schluchzend stieß er die Sätze hervor und schlug seinen Kopf gegen die Fensterscheibe. “Aber das ist uns doch seit Jahren klar, Mark!”, rief Nora und zog ihn neben sich auf einen Klavierhocker. “Ja, aber ich komm’ nicht weiter!”, schrie Mark verzweifelt. “Das Problem liegt viel tiefer, in der Kindheit ... ” Nora legte den Arm um ihn. „Mark, ich kann dir dabei aber nicht helfen. Das haben wir ja versucht!“ „Aber ich brauche dich! Ich liebe dich!" Nora seufzte. „Ich dich auch, immer noch. Aber wir können nicht einfach wieder so zusammen sein. Dazu habe ich zuviel gelernt über uns.“ „Ich weiß nicht, wie ich alles ordnen soll. Es stimmt alles nicht mehr, in mir ... “ Mark verbarg das Gesicht in den Händen. Nora stand auf und griff nach einem Bleistift, der auf einem Notenständer lag. Sie schrieb Frau Hartmanns Nummer, die sie mittlerweile auswendig konnte, auf einen Zettel und reichte ihn Mark. Am liebsten hätte sie ihn geküsst, aber sie unterdrückte den Impuls. Sie war so erleichtert. Sie spürte jetzt, welcher Druck die letzten Wochen auf ihrer Seele gelastet hatte. An dieses schwere Gewicht hatte sie sich gewöhnt, und nun merkte sie, dass sie wieder atmen konnte. Es war nicht alles verloren mit Mark, das hatte sie immer gewusst. Aber wenn er seine Probleme nicht anging, würde es nicht funktionieren, denn mit seiner Vergangenheit war keine Beziehung möglich. Es gab nur eine Chance: diese Vergangenheit anzunehmen und aufzuarbeiten, zu verzeihen und erwachsen zu werden. Nora zog ihre Jacke an und berührte Mark kurz am Arm. ”Meldest du dich mal bei mir? Wir können uns ja ab und zu sehen.“ Er nickte, lächelte zaghaft. So hatte Nora ihn noch nie erlebt, und es tat ihr gut. Aber jetzt musste er ran. Und sie musste warten.
Mark begann seine Therapie bei einem Kollegen von Frau Hartmann. Mark erzählte Nora viel von seinen Sitzungen, schließlich auch von den Übergriffen seiner Mutter. Wie sie den kleinen Mark nie als Sohn sondern immer als Partner behandelt hatte. Wie unselbständig sie stets ohne ihn gewesen war, und wieviel sie ihrem Kind zugemutet hatte. Der kleine Junge wurde abhängig davon, seine Mutter glücklich zu sehen. Nora war erschüttert. Nun fiel alles an seinen Platz, und Nora verstand endlich, warum Mark so geworden war. Er tat ihr unendlich leid, und ihr Hass auf Angelika wuchs mit jeder Träne, die Mark weinte.
Mark zog seine Sitzungen durch, obwohl er oft kurz vor dem Zusammenbruch stand. Denn er spürte trotz aller Qualen, die ihm die Therapie abverlangte, dass er eine einmalige Chance bekommen hatte: seinem Leben eine glückliche Wendung zu geben und ohne die Dämonen seiner Kindheit mit Nora eine erwachsene und ausgeglichene Beziehung zu führen. Sein Germanistiktudium betrieb Mark weiterhin mit viel Enthusiasmus. Er liebte es, Texte zu analysieren, darüber zu referieren und zu diskutieren. Der perfekte Ausgleich zur Musik. Er wollte unbedingt Lehrer werden und freute sich auf den ersten Job an einem Gymnasium. Eine Referendariatsstelle war ihm bereits zugesichert, und wenn er in den Lehrproben gute Noten erzielte, auch eine Festanstellung als Studienrat.
Nora beobachtete Marks Entwicklung mit gemischten Gefühlen. Einerseits war sie beeindruckt von seiner Zielstrebigkeit und seinem Mut. Denn trotz großer musikalischer Fähigkeiten einer Karriere als Solopauker den Rücken zu kehren und sich bewusst für einen anderen Weg zu entscheiden war mutig. Andererseits beschlich Nora immer öfter ein mulmiges Gefühl, wenn sie Marks Weg konsequent zuende dachte. Ein hübsches Reihenhäuschen mit Garten, Kinder, die zur Musikschule gebracht werden mussten, Aufsatzhefte, Lehrer-Volleyball, und vielleicht ab und zu ein gemeinsamer Opernbesuch. Nora hatte sich immer nach einem Nest gesehnt. Aber als sie dieses Nest jetzt so plastisch-idyllisch vor Augen hatte, erschrak sie, denn sie sah sich in diesem Entwurf nicht mehr. Mark strebte weg vom Musikerdasein, Nora wurde mehr und mehr in den Betrieb hineingezogen.
Längst hatte sie sich in der Mannheimer Szene einen Namen als Konzertsängerin gemacht und sang Konzerte auf höchstem Niveau. Sie trat in der Mannheimer Philharmonie auf, und wurde von bekannten Dirigenten zum Vorsingen eingeladen. Und Mozarts Susanna hatten Nora hungrig auf die Oper gemacht. Frech und unbefangen meldete sie sich zu Vorsingen an. Zuerst für kleinere Projekte, zu denen die Vorsingen innerhalb der Hochschule stattfanden. Nora bekam alle Partien, für die sie sich bewarb.
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