Dann fuhr sie mit ihrer quirligen Kommilitonin Silke nach Eutin, wo für ein großes Opernfestival im Sommer junge Stimmen gesucht wurden. 200 Sänger waren zum Vorsingen angereist, 30 wurden genommen, unter ihnen Silke, die die Fiordiligi in Mozarts „Cosi fan tutte“ singen würde, und Nora, die für eine große Partie in der geplanten Haydn-Oper besetzt wurde. Und schließlich schickte eine Mannheimer Agentur Nora nach Coburg. Das Coburger Opernhaus suchte ab dem kommenden Herbst eine Sopranistin als festes Ensemblemitglied, unter anderem für Susanna.
Als die Anfrage der Agentur kam, bekam Nora weiche Knie. Jetzt wurde es anscheinend ernst. Sie konnte sich vorstellen, eine Opern-Produktion irgendwo zu machen, vier Wochen vielleicht, als Gastsängerin. Aber in ein festes Engagement zu gehen? In eine andere Stadt? Weg von Mark und Mannheim? Im Zug nach Coburg schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie hatte die Kommilitoninnen, die Engagements bekommen hatten, immer beneidet, denn die waren die Stars an der Hochschule. Aber Nora wollte überhaupt nicht weg aus Mannheim. Gerade jetzt, wo ihre Beziehung zu Mark wieder in Ordnung war. Nora biss sich auf die Lippen und blickte zum Zugfenster hinaus. Die Minibar kam vorbeigerollt und Nora bestellte dankbar einen Kaffee. „Ich muss den Job ja erst mal kriegen”, dachte sie und pustete vorsichtig in den dünnen Pappbecher. “Außerdem weden die sofort sehen, dass ich eine blutige Anfängerin bin!“
Aber genau das war gefragt. Nora trat zum Vorsingen auf die Bühne, rief völlig unbefangen “Hallo!” in den abgedunkelten Zuschauerraum, und begann mit der schweren Pamina-Arie. Im Zuschauerraum wurde einige Minuten getuschelt, dann verlangte eine körperlose Stimme die zweite Arie, die Nora im Angebot hatte, das Freischütz-Ännchen. Nora fühlte sich pudelwohl. Das Ännchen sang sie besonders gern. Außerdem hatte sie den Zugfahrplan im Kopf und freute sich, dass sie den nächsten Zug zurück nach Mannheim erwischen würde. Aus dem Zuschauerraum sagte jemand: „Danke, Frau Grossmann, bitte warten Sie draußen“.
Nora verließ die Bühne und ging den langen Gang zum Wartraum zurück. Unterwegs holte sie sich eine Dose Cola light aus dem Automaten. Inzwischen waren von den ursprünglich angereisten fünfzehn Vorsängerinnen nur noch zwei im Warteraum. Eine dicke Blonde wurde zur Bühne gerufen, als Nora den Warteraum betrat. Nach zwei Minuten kam die Blondine mit versteinerter Miene zurück, schnappte ihren Mantel und ihre Tasche und ging ohne Gruß. Die letzte Sopranistin lehnte mit überschlagenen Augen am Fenster und betrachtete Nora aus zusammengekniffenen Augen. Sie war klein und hübsch, und hatte schwarze Haare bis zur Taille. Sie wurde zur Bühne gerufen und sang. Minutenlang. Nora blätterte eine Zeitschrift durch und fragte sich ärgerlich, worauf sie eigentlich noch warten sollte. Sie seufzte und warf ihre leere Dose in den Papierkorb. Plötzlich kam die aufgeregte Inspizientin um die Ecke und rief: „Frau Grossmann, schnell, sie müssen noch die Susanna-Arie singen!“ Nora hatte schon die Schuhe ausgezogen, den Lippenstift abgewischt und ihre Sachen zusammen gepackt. Sie hatte keine Zeit, nachzudenken oder in Panik zu geraten. Jetzt ging es anscheinend um die Wurst. Warum auch immer, aber das war jetzt eine Sache zwischen ihr und der Dunklen. Nora sang die ‚Rosenarie‘, Susannas Liebeserklärung an Figaro. Sie schloss die Augen und dachte an die wunderbaren „Figaro“-Vorstellungen der Opernschule zurück. Und sie dachte an Mark. Ihr ganzes Gefühl lag in dieser Interpretation der Arie.
Nach dem Vorsingen wurde Nora zum Intendanten ins Büro gebeten. Er engagierte Nora vom Fleck weg. Der Chefdirigent steckte den Kopf zur Türe herein und gratulierte. Der Intendant erläuterte ausführlich die Klauseln des Zwei-Jahres-Anfänger-Vertrages, Nora hörte kaum hin. Gretel würde sie singen! Und Susanna! Nora taumelte aus dem Büro des Intendanten. Sie hatte ein Engagement. Mit Hauptpartien. Und plötzlich hatte sie keine Angst mehr. Ihr Weg lag vor ihr. Die Tränen die jetzt flossen, waren Tränen des Glücks und des Stolzes.
Dann saß Nora wieder im Zug, zurück nach Mannheim. Alles hatte sich in wenigen Stunden komplett verändert. Sie war jetzt Opernsängerin. Wie würde Mark reagieren? Er hatte sich immer so bedroht gefühlt durch ihre Karriere. Aber Mark hatte dazu gelernt. Er holte Nora am Bahnhof ab. Und als sie ihm heulend um den Hals flog, stammelnd von ihrem Erfolg erzählte, und er das Glück in ihren Augen sah wurde er mächtig stolz auf seine Freundin. Eng umschlungen verließen sie den Bahnhof und gingen zu ihrem Lieblingschinesen am Stadtpark.
Mark war zufrieden. Bedroht gefühlt hatter er sich immer nur von diesen Hochschul-Pseudo-Stars, von den Gesprächen am sogenannten Sängertisch „Ich fange an einem kleinen Haus gar nicht erst an!“ oder “Die verheizen einen doch nur mit kleinen Partien!” Er hatte die Überheblichkeit gehasst; Eitelkeit gepaart mit Nicht-Können. Die Angst, dass Nora diese Ansichten eines Tages übernehmen könnte, hatte ihn schier um den Verstand gebracht. Aber ein richtiges Engagement an einem professionellen Haus, das fand er phantastisch. Und plötzlich wusste Mark, dass er Nora bei sich in seiner Wohnung haben wollte.
Nora war glücklich. Alles fügte sich perfekt ineinander. In Coburg würde sie sich eine kleine Arbeitswohnung suchen, und in Mannheim mit Mark endlich ihr Nest haben. Ihr Vertrag in Coburg war auf zwei Jahre begrenzt, genau so lange, wie Mark auch noch für sein Studium brauchte. Und dann wollte er Kinder. Zwei oder drei. Nora konnte sich das an diesem Abend beim Chinesen gut vorstellen. Ein paar Jahre Oper, dann Kinder und Konzerte. Mark machte Nora am selben Abend einen Antrag und die beiden stießen mit roten Wangen und Pflaumenwein auf ihre Zukunft an. Dann steckten sie die Köpfe zusammen und planten die Verlobung.
Ich bin 1970 geboren, im Zeichen des Widders. Mein Papa Heinz wuchs mit vier Geschwistern in einem kleinen Dorf im Badischen auf. Seine Eltern waren sehr streng und sehr fromm. Das Geld war stets knapp, die Sorgen zahlreich. Mein Vater wollte Ingenieur werden, und von den fünf Geschwistern war er schließlich der einzige, der studierte. Mama lebte mit ihren Eltern und ihrem Bruder einige Kilometer weiter nördlich, Richtung Mannheim.
Zufall oder nicht; es gab gemeinsame Freunde, und auf einer Maiwanderung trafen meine Erzeuger zusammen. Meine Mutter Silvia witterte sehr schnell, dass Heinz sich eklatant von ihren bisherigen Verehrern unterschied. Er war zwar ein arroganter Kerl, der in jedem kurzen Satz seine Überlegenheit zum Ausdruck brachte, aber meine Mutter spürte, dass Heinz und sie die gleichen Ziele hatten: den Ehrgeiz, sich aus dem Sumpf der Familien herausziehen, und den eisernen Willen, die soziale Leiter emporzuklettern. Heinz spielte zwar noch einige Tage nach der Wanderung den Unnahbaren, aber auch er fand die freche, ihm eigentlich etwas zu forsch-laute Blondine äußerst attraktiv.
Als sie am Nikolaustag 1969 heirateten, war Mama im vierten Monat schwanger mit mir. Kürzeste Zeit nach der Niederkunft musste sie wieder arbeiten. Mein Vater studierte noch, und das Geld war knapp.
Ich wurde von ihrer Mutter betreut. Wally war erst vierzig, aber das Leben hatte sie hart gemacht. Als junge Mutter war sie oft krank gewesen; hatte monatelang mit ihrer Tuberkulose in verschiedenen Sanatorien gelegen. Zu ihrer heranwachsenden Tochter Silvia verlor sie den Draht, und die ließ sich bald nichts mehr von ihr sagen. Dann bekam Wally ein zweites Kind, Hans. Zwei Tage nach der Geburt bekam er plötzlich schwere Hirnkrämpfe. Die Ärzte retteten sein Leben, aber seine Entwicklung war ab diesem Zeitpunkt schwer gestört.
Tapfer veruchte Wally ihn großzuziehen, aber der Zug um ihren Mund wurde immer schärfer. Sie ließ ihre Hilflosigkeit an ihrem Mann aus. Bruno konnte seiner verbitterten Frau nicht helfen. Er kompensierte ihre Enttäuschung und seine Traurigkeit mit Liebe für seine beiden Kinder Hans uns Silvia. Oma Wally stürzte sich auf mich. Was sie bei Silvia und Hans nicht geschafft hatte, versuchte sie jetzt mit mir. Mit 10 Monaten begann ich zu laufen, ohne je gekrabbelt zu sein. Mit zwei Jahren brauchte ich keine Windel mehr und konnte das Alphabet. Ich wuchs auf mit Omas Applaus und dem Gefühl, ein Wunderkind zu sein.
Читать дальше