Im Restaurant nahm Mark seinen Damen die Mäntel ab. Angelika wurde bleich, als Nora sich laut ein Weizenbier bestellte. Sie überspielte ihren Schock, tröstete sich mit dem Gedanken, dass dieses Bier sicher nur gegen den Durst war und zupfte an ihren Handschuhen. Nora lachte laut und küsste Mark vor aller Augen. Dann streifte sie sich mit einem erleichterten Seufzen ihre Pumps ab und bestellte ein weiteres Bier. Angelika verzog den Mund und ging sich die Nase pudern.
Nora war keine Dame. Diese gewaltige Kröte musste Angelika in den kommenden Wochen schlucken. Aber wenn Nora sang, gab Angelika sich geschlagen. Noras Stimme war einzigartig, das wusste Angelika. Und dafür nahm sie Noras Art in Kauf. Und sie nahm in Kauf, dass Nora keine neue Mutter brauchte. Bitter war auch, dass Nora eine eigene Wohnung hatte. Angelika bekam ihren Jungen kaum noch zu Gesicht und spürte, wie er ihr entglitt. Angelikas Rache war wenig subtil. Nach wie vor stand auf dem Klavier in ihrer Wohnung das Familienphoto vom letzten Weihnachtsfest, mit einer strahlenden Dagi in der Mitte. Nora litt darunter, und weil sie nichts davon hielt, schlechte Emotionen hinunter zu schlucken, sprach sie Angelika darauf an. Die tat es mit einem Lachen ab: „ Ach meine Liebe, das hat gar nichts zu bedeuten, das ist eben nur das einzige Bild, auf dem Hermann nett mit drauf ist!“ Dem konnte Nora natürlich nichts entgegensetzen.
Angelika setzte dieses Bild nun ein wie eine Waffe: eines Tages war es verschwunden. Gesprochen wurde nicht darüber, aber Nora war glücklich, und fühlte sich endlich von Marks Mutter akzeptiert. Zwei Wochen später waren sich Nora und Angelika uneins über eine Sache, und das Bild stand wieder auf dem Klavier. Als Mark schließlich verkündete, ausziehen zu wollen war Angelika sofort klar, dass Nora hinter dieser Entscheidung steckte. Tatsächlich hatten Nora und Mark oft über dieses Thema gesprochen, aber Nora hätte Mark niemals zum Umzug gedrängt. Insgeheim sehnte sie sich schon lange danach, mit Mark ein Nest zu bauen, aber den Auszug bei seiner Mutter musste er schon alleine bewerkstelligen. Angelika weinte und flehte, gab sich aber schließlich geschlagen.
Nora und Mark begannen Mannheim zu durchwandern, zu träumen und zu planen. Alles war möglich, alles war neu und aufregend. Nora hatte sich in ihrer ersten Studentenwohnung wohl gefühlt, aber jetzt wollte sie so schnell wie möglich ausziehen. Zu Mark. In den schönsten Farben malte sie sich ihr gemenisames Leben mit ihm aus und packte Umzugskartons, was das Zeug hielt.
Mark hatte das Wochenende bei seinem Freund Chrissy in Freiburg verbracht. Seit Mark nach Mannheim gezogen war, hatten sich die Freunde kaum mehr gesprochen. Mark hatte Nora viel von Christoph erzählt, und Nora war froh, dass Mark den Kontakt zu ihm wieder aufgenommen hatte.
Chrissy war während Marks Jugendzeit sein einziger Halt gewesen. Hin und hergerissen zwischen dem diffusen Bedürfnis, seine Mutter schützen zu müssen, Mitleid gegenüber seinem Vater und Scham, wann immer er Hermann gegenüberstand, war Mark meistens abends zu Chrissy geflüchtet. Chrissy hatte nie einen Hehl daraus gemacht, wie unwürdig er die Situation bei Mark zuhause fand. ”Diese kranke Konstellation” hatte er immer gesagt. Chrissy und Mark schufen sich ihre eigene Welt. Sie tauchten ein in die Filme von Arnold Schwarzenegger, dessen Terminator-Motto zu ihrem Evangelium wurde: komplizierte Probleme verlangen nach einfachen Lösungen. Mark übertrug diese Devise auf sein Leben, wappnete sich gegen die Übergriffe seitens der Familie, die ihm sein Freund Chrissy wieder und wieder unerbittlich aufzeigte, und machte sich unverwundbar. Er trug sein neu gewonnenes Selbstbewusstsein wie einen weichen, warmen Mantel, und Chrissy war der Schal, der perfekt dazu passte.
Mark und Chrissy gründeten eine Band und spielten laute, aggressive Rockmusik. Mark hatte sich für den Part des Drummers entschieden, und schnell hatte sich herausgestellt, dass er eine Begabung für das Instrument hatte. Er hörte komplizierte Rhythmen auf den Platten seiner Lieblingsbands und spielte sie sofort fehlerfrei nach. Chrissy ließ dilettantisch, aber mit großer Begeisterung, die Gitarre dazu jaulen und organisierte kleine Auftritte in Studentenkneipen. Dann kamen die ersten Erfahrungen mit Frauen, und die beiden jungen Männer erzählten sich detailgetreu, was sie erlebt hatten. Chrissy war von Anfang an ein gewaltiger Dorn im Auge Angelikas. Sie fühlte, dass Mark sich von ihr entfernte und Chrissys Einfluss immer größer wurde. Diese Tatsache hatte Nora irgendwie beruhigt. Sie hatte zwar Walter und Anton noch nicht kennengelernt, aber die haarsträubenden Geschichten um den sagenhaften Walter und den verbissenen Anton jagten ihr Angst ein. Angst um Mark. Als sie Mark einmal gefragt hatte, wie denn Chrissy mit Angelika zurecht gekommen sei, hatte der nur vielsagend die Brauen hochgezogen und gefragt: ”Kannst Du dir das nicht denken?” Nora hoffte, dass die beiden Männer sich wieder annähern würden, denn Mark hatte sonst kaum Freunde.
Nach seinem Wochenendbesuch in Freiburg kam Mark Montag morgen unangemeldet zum Frühstück. Nora freute sich und beschloss, ihre Theoriestunde ausfallen zu lassen. Beim Kaffeekochen plapperte sie munter vor sich hin bis sie merkte, dass Mark immer noch im Türrahmen stand und ihr überhaupt nicht zugehört hatte. Als sie ihn ansprach und spielerisch kitzelte schob er sie entschieden von sich. “Setz dich bitte”, bat er ernst. Noras Lächeln gefror. Langsam sank sie auf den Stuhl, der ihr am nächsten stand. Mark räusperte sich. “Ich habe mich dazu entschieden, nicht mit dir zusammen zu ziehen.” Nora schloss die Augen und schluckte. Jetzt war es also passiert, er wollte sie verlassen. Er liebte sie nicht mehr. Nora begann zu weinen. Mark wartete einige Minuten. Als ihr heftiges Schluchzen leiser wurde begann er zu erklären, was am Wochenende im Gespräch mit Chrissy geschehen war. “Ich habe Chrissy natürlich von uns erzählt. Wie glücklich wir sind und so. Und dass ich es dank Dir endlich geschafft habe, mich von meiner Mutter zu lösen, und wir uns nun eine gemeinsame Wohnung suchen.” Mark brach ab. Nora schniefte: “Und dann?” “Christoph hat zuerst gar nichts gesagt. Dann geseufzt, tief Luft geholt und mir dann, in alter Manier, den Kopf gewaschen. Dass ich nach 28 Jahren bei Mami vielleicht erst mal mein eigenes Leben führen sollte. Dass ich mich davor hüten sollte, von einem gemachten Bett ins nächste zu fallen.” Mark blickte zu Boden. Er hatte seinem Freund wenig entgegenzusetzen gehabt und war am nächsten Morgen verstört aus Freiburg weggefahren. Doch dann hatte er angefangen nachzudenken, und war zum Ergebnis gekommen, dass Chrissy in allen Punkten recht hatte. Mark stieß sich vom Türrahmen ab. “Die Phase ist jetzt wichtig für mich, und ich werde mir alleine was suchen. Sorry, aber du wirst, wenn du darüber nachgedacht hast, schon sehen, dass es das beste ist, auch für dich.“ Dann streichelte er flüchtig ihre Wange, nahm sein Brötchen und verließ die Wohnung.
Nora starrte auf den gedeckten Tisch, ohne etwas zu sehen. Sie hatte es sich so sehr gewünscht. Und Mark doch auch. Nora wurde sauer. Natürlich wusste sie, dass Christoph Recht hatte, oft genug hatte sie selbst bei der romantischen Wohnungsplanung ein ungutes Gefühl gehabt. Aber warum wurde sie wieder vor vollendete Tatsachen gestellt? Warum wurden die wichtigen Dinge in Marks Leben ausschließlich mit anderen besprochen? Sie war so sauer, dass sie anfing, ihre Wohnung zu putzen. Die körperliche Arbeit tat ihr gut, aber das Gefühl der Machtlosigkeit ließ sich nicht abschütteln. Angelika würde sich ins Fäustchen lachen, denn ob Mark jetzt überhaupt ausziehen würde, stand in den Sternen. Vera würde triumphierend zurückkehren; jetzt konnte man die Studenten-Ausschuss-Sitzungen ja in Marks Wohnung abhalten.
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