Nora wusste, dass Mark mit Dagi noch nicht abgeschlossen hatte. Und wer hätte besser gewusst als sie, dass es eigentlich nicht gut war, von einer langen Beziehung sofort in die nächste zu stolpern. Eine Art Auszeit, so etwas wie eine Rekonvaleszenz, hätte sie Mark vorschlagen sollen, das war ihr klar. Aber womöglich hätte er es sich dann anders überlegt und wäre zu Dagi zurückgegangen. Und Nora war so verliebt wie noch nie. Mark hielt Nora für die Traumfrau schlechthin. Trotz, oder gerade wegen ihrer paar Kilo zuviel, fand er sie attraktiv und sexy, hochintelligent und witzig. Schon an der Nordsee hatte Nora Mark von der Krankheit erzählt, die sie seit einigen Jahren quälte, einer chronischen Dickdarmentzündung. Es ging ihr oft sehr schlecht, dann musste sie starke Medikamente nehmen. Mark frohlockte. Eine Frau, selbstbewusst und stark, eine Frau die sich vor 1000 Leute stellt und singt, die aber krank, und dadurch ganz bestimmt hilfs- und anlehnungsbedürftig war. Diese Mischung war für Mark das reinste Aphrodisiakum. “Die Krankheit streichel’ ich dir weg!”, sagte er immer. Nora war glücklich, denn Mark gab ihr das Gefühl, dass er sie wirklich wollte.
Nur diese Dagi bereitete ihr nach wie vor Bauchschmerzen. Mark hatte Nora einige Photos von Dagi gezeigt, und Nora fragte sich verunsichert, wie sie mit einer solchen Schönheit konkurrieren sollte. Nora war mit ihrem Aussehen immer zufrieden gewesen, und im letzten Jahr waren ihr die Männer zu Füßen gelegen. Aber nun ertappte sie sich dabei, wie sie sich vor dem Spiegel drehte, verbog, um sich von hinten zu sehen. Sie fing an, sich zu wiegen und Sport zu machen. Das Phantom Dagi wurde Studienobjekt und ständige Bedrohung. Nora fühlte sich im Vergleich zu der schmalen Elfe plump und fett, und wartete jeden Tag darauf, dass Mark sie wieder verlasssen würde. Aber nichts dergleichen geschah, und Nora begann, Boden unter den Füßen zu spüren.
Verliebte Ruhe kehrte ein; Mark und Nora atmeten durch.
Nora begann, jeden Tag in ihrem Zimmer Aerobic-Übungen zu machen, die Mark aus USA mitgebracht hatte. Von seiner “Aerobic-Queen” Meg, wie er Nora vor kurzem lachend erzählt hatte. Seine Augen hatten bei der Erwähnung des Namens geglänzt, und Nora hatte argwöhnisch nachgefragt. Mark erzählte vom Beginn seines Studiums in den USA, vom dramatischen Abschied von seiner großen Liebe Dagi. Doch kaum war er in USA aus dem Flieger gestiegen, hatte er Dagi schon das erste Mal betrogen. Mit einer Frau, deren Name er sofort vergessen hatte. Seine Zeit an der Uni war ausgefüllt. Jeden Monat gab es Beurteilungen und Klassenabende; theoretische Fächer mußten absolviert, der Chor besucht werden. Und im Chor sang Meg. Meg war das Gegenteil von Dagi. Pummelig und quirlig nahm sie Mark im Sturm. Die beiden wurden zum Hochschul-Traumpaar, und Meg hatte ihr Glück kaum fassen können, erzählte Mark. Der coole Student aus Germany. Meg wusste von der schönen Dagi mit dem perfekten Körper, und Mark hatte immer wieder betont, dass er am Ende des Jahres zu Dagi nach Deutschland zurückgehen würde. Mark machte Schluss mit Meg und stieg in den Flieger nach Deutschland. Er hatte Megs Lachen im Ohr und einen Kloß im Hals. So müsste die Frau an seiner Seite sein. Aber dann war da stattdessen Dagi, die fragile Nymphe.
Und als Mark dann Nora getroffen hatte, die Meg in vielem so ähnlich war, war ihm irgendwann klar gewesen, dass mit Dagi Schluss war. Nora beschloss, dieses Bild, dass Mark von ihr hatte, schärfer zu zeichnen, und begann mit den Aerobic-Übungen. Schließlich wollte sie ja auch unbedingt abnehmen. Und sie wollte vital sein, so vital wie Mark. Denn instinktiv spürte sie schon zu diesem Zeitpunkt, dass es nicht gut war, ihn zu sehr an ihrer Krankheit teilhaben zu lassen. An manchen Tagen behandelte er sie wie ein krankes Pferd, obwohl es ihr gut ging. Er streichelte und umsorgte sie, dabei hatte sie oft tagelang nicht mehr an ihre Krankheit gedacht. Eines Abends, als er sie besorgt an ihre Medikamente erinnerte, sagte sie lachend zu ihm: “Sag mal, du willst wohl, dass ich mich krank fühle, oder?” Mark widersprach empört und zog sie leidenschaftlich an sich.
Auf der Reise an die Nordsee, bei der Nora und Mark sich kennengelernt hatten, waren auch Jan und Gerd mit von der Partie gewesen. Zwei hochbegabte Klavierstudenten, im Jazz wie in der Klassik versiert. Jan und Gerd waren die besten Freunde, und so verschieden, wie zwei Menschen verschieden sein können. Gerd war dürr, trug eine zu dicke Brille sowie einen Schnauzbart und hatte noch nie eine Freundin gehabt. Jan war blond, gutaussehend, und die Frauen standen Schlange. Mark hatte die meisten Vorlesungen gemeinsam mit den beiden, und zusammen mit Nora und ihrer Kommilitonin Frauke, die ein Auge auf Jan geworfen hatte, entstand eine farbenfrohe Clique. Wenn die fünf den halben Tag gemeinsam in der Mensa gesessen hatten, verabredeten sie sich abends für Kino oder Kneipe. Nora war glücklich. Sie hatte endlich richtige Freunde. Mark war verliebt in sie und sagte ihr immer wieder, dass sie zusammen gehörten. Auch im Bett hatten sie phantastische Stunden. Mark war einfühlsam und wusste trotzdem genau, was er wollte. Nora hatte in letzter Zeit keine erwähnenswerten Erfahrungen gemacht, und fühlte sich von Mark zur Sex-Göttin erhoben.
Derart umsorgt und auserkoren sah Nora in den ersten Monaten mit einem Augenzwinkern darüber hinweg, dass Mark viel Zeit mit seiner Kommilitonin Vera verbrachte. Die beiden waren im Schulmusik-Ausschuss, deshalb lag es in der Natur der Sache, dass sie sich oft sahen. Als die Treffen allerdings zunehmend in Veras Wohnung stattfanden, die beiden sich häufig zum Joggen verabredeten, und als dann und wann versehentlich Treffen mit Vera verschwiegen wurden, wurde Nora misstrauisch. Sie war sicher, dass er sie nicht betrog, aber das Verhältnis zwischen Vera und ihm war dennoch nicht in Ordnung.
Eines Mittags in der Mensa versuchte Nora mit Jan und Gerd darüber zu reden, aber die beiden reagierten verständnislos. Gerd fragte: „Wieso, Mark ist dir doch absolut treu!“ Und Jan meinte gähnend: “Ist doch in Ordnung, wenn man sich auch mal mit anderen verabredet, oder nicht? Du, fang’ bloß nicht an zu klammern, da hat kein Mann Bock drauf! Und außerdem“, fügte er mit einem Grinsen hinzu, “lass‘ ihm doch sein treues Hündchen, die ist für ihn sicher auf Dauer nicht interessant.“ Nora verabschiedete sich nachdenklich.
Sie suchte ein leeres Probezimmer uns setzte sich auf den Klavierschemel. Gedankenverloren schlug sie einen Akkord an. Mark schätzte an ihr ihr sicheres Auftreten und ihre spontanen, verrückten Einfälle, das wusste sie. Aber oft sah sie in seinen Augen ein ungutes Glitzern, wenn er in die Mensa kam und sie laut lachend mit ihren Gesangskollegen am „Sängertisch“ sitzen sah. Selbst wenn sie dann sofort aufsprang und sich umgehend mit ihm an einen anderen Tisch setzte.
Es klopfte an der Tür, und Noras Freundin Frauke steckte grinsend den Kopf herein. “Hey, jetzt hör’ mal auf zu üben, ich kriege ein total schlechtes Gewissen! Komm, wir gehen Kaffeetrinken, Jan und Gerd warten unten!” Nora stand auf, zog Frauke am Arm ins Zimmer und schloss die Tür. Lachend stolperte Frauke über Noras Tasche. Dann sah sie Noras Gesicht. “Was ist denn los?”, fragte Frauke und setzte sich auf die Fensterbank. Nora nagte auf ihrer Unterlippe. “Ich denke über Vera und Mark nach”, sagte sie. Frauke stöhnte. ”Nicht schon wieder, das haben wir doch schon tausendmal durchgekaut. Da läuft nix!” “Ja, ich weiß, das ist auch nicht das Problem, hör zu, ich habe das Gefühl, dass ... kann es sein, dass Mark eifersüchtig ist auf meinen Erfolg?“ Frauke zog die Brauen hoch. “Du lernst aber schnell!” Nora zuckte zusammen. ”Wieso?” Frauke blickte zum Fenster hinaus, kniff die Augen zusammen und sagte: “Na ja, denk doch nur mal an den “Elias” vor zwei Wochen. Du hast phantastisch gesungen, und was ist dann passiert?” Nora schluckte.
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