Mark fuhr versöhnt und zufrieden zurück nach Mannheim. Nora vermisste ihn furchtbar und schrieb ihm lange Briefe. Wie leid es ihr tue, zu was sie sich habe hinreißen lassen. Aber sie habe Robert doch nur helfen wollen. “Ich bin so dankbar, dass du mir die Augen geöffnet hast, Mark”, schrieb sie. “Du hattest so recht, wie konnte ich auf den Gedanken kommen, mit ihm weiter Kontakt zu haben! Es tut mir so leid! Ich liebe dich so sehr!” Als Robert einige Tage später im Sekretariat der Festpiele anrief, und sich mit Nora verbinden lassen wollte, ließ sie sich verleugnen. Sie hatte zu große Angst davor, dass Mark danach fragen würde. Und Nora wollte nicht lügen.
Nora kam zurück nach Coburg, die Spielzeit begann. Und Nora stürzte sich kopfüber in den Theateralltag. Jede freie Minute verbrachte sie im Theater, übte, probte oder diskutierte mit Karen. Die Beziehung der beiden hatte sich noch vertieft, stundenlang redeten die beiden über ihre kleine, riesige Theaterwelt. Nora ging komplett auf in ihrem neuen Umfeld. Sie wusste, wie privilegiert sie war, diesen Traumberuf ausüben zu dürfen. Ihr ganzes Denken kreiste ums Theater und oft vergaß sie, dass es ausserhalb des Theaters auch noch eine andere Welt gab.
„Figaros Hochzeit“ wurde wiederaufgenommen, und Noras Verkörperung der Susanna hatte über die Wochen an Tiefe gewonnen. Dann stand die Operette “Im Weißen Rössl” an. Nora war als brave Fabrikantentochter Ottilie besetzt. Bei der ersten Probe, der großen Walzerszene, inszenierte der Regisseur zwischen Nora und ihrem Partner Frank, den Nora erst eine halbe Stunde zuvor in der Kantine kennengelernt hatte, einen langen, intensiven Bühnenkuss. Begeistert erklärte er, wie wunderbar das aussehen würde: das Ballett, ganz in hellblau, in der Mitte das küssende Paar, 50 Takte lang. Der Regisseur blickte die beiden erwartungsvoll an, aber weder Nora noch Frank, der ebenfalls frisch von der Hochschule kam, trauten sich, die Szene anzugehen. Der Regisseur schob die beiden eng zusammen, fuchtelte ungeduldig mit den Armen und meinte: “So. Jetzt küsst euch mal, aber bitte nicht wie zwei Sänger!” Nora schloss die Augen und sprach ein stummes Gebet. Und dann küssten sie sich. Bei jeder Probe, und schließlich bei jeder Vorstellung, 34 mal. Frank verlor völlig den Kopf und begann, Nora den Hof zu machen. Die interessierte sich aber überhaupt nicht für ihn, also schwang er auf Karen um, die zwar prinzipiell interessiert gewesen wäre, aber mit der forschen Assistentin Maike, die es vehement auf Frank abgesehen hatte, nicht konkurrieren wollte. Frank geriet in Panik, und stellte den Kolleginnen kurz darauf seine neue Freundin vor: eine ehemalige Kommilitonin, polnische Koloratursopranistin, blondiert und blasiert. Nora, Karen und Maike nahmen Frank freundschaftlich in ihre Mitte, und redeten ihm die Dame, sanft aber nachdrücklich, wieder aus.
Die Monate flogen dahin, und für Nora kamen anspruchsvollere Partien. Eine Herausforderung war die Rolle der Lehrerin Elli Maldaque, die durch üble Nachrede in den Verdacht gerät, Kommunistin zu sein. “An der schönen blauen Donau” wurde nicht auf der großen Bühne, sondern im Kammertheater gespielt, das maximal 80 Zuschauer fasst. Nora hatte die Partie intensiv studiert, und die komplizierte, moderne Musik schnell auswendig im Kopf gehabt. So konnte sie sich vollkommen auf die Darstellung der Elli konzentrieren, die so intensiv war, dass das Publikum jedesmal stehend applaudierte.
Und dann kam das Ännchen im „Freischütz“, eine Traumpartie für jede Sopranistin. Das Ännchen war wie für Nora komponiert. Die beiden Arien hatte sie seit Jahren im Vorsing-Repertoire und nun war sie überglücklich, die gesamte Partie interpretieren zu dürfen. Bei den Proben gab es viel Gelächter. In der „Schlanker Bursch“ Arie sollte sie, um Agathe aufzumuntern, lachend über die Bühne hüpfen, und dabei ein Männchen aus Papier ausschneiden, den “Schlanken Burschen”. Noch in der öffentlichen Generalprobe musste zweimal abgebrochen werden: Nora und ihre Kollegen konnten vor Lachen nicht weitermachen; beim ersten Versuch hatte Noras Männchen drei Beine, beim zweiten gar keine. Der Regisseur beschloss daraufhin, das Männchen jedsmal vorher vom Requisiteur mit Bleistiftt vorzeichnen zu lassen. Auch als Ännchen hatte Nora großen Erfolg. Ihre Natürlichkeit und ihre frische Stimme verzauberten Publikum und Kritiker.
Nora gab alles, was sie hatte. Nichts war ihr zu anstrengend, nie sagte sie ab. Als ihre Kollegin Marianne, mit der sie in fast allen Partien doppelt besetzt war, zehn Tage krankheitshalber ausfiel, sang Nora in diesen zehn Tagen alle neun Vorstellungen allein. Und sie war glücklich dabei. Sie wusste, dass das ihr Leben war, und sie nichts anders tun wollte, als auf der Bühne zu stehen. Als Nora nach einer Woche vom Leiter des Betriebsbüros darauf hingewiesen wurde, dass sie laut Vertrag eigentlich nur vier Vorstellungen pro Woche singen müsse, lachte Nora nur und rannte zur Bühne.
Die Herausforderungen wurden immer größer. In der „Lustigen Witwe“ war sie als Valencienne besetzt, kapriziöse und untreue Ehefrau des Baron Zeta. Einer der Höhepunkte der Operette ist der mitreißende CanCan im dritten Akt, den Valencienne singt, und das Ballett tanzt. In der Coburger Inszenierung allerdings sollte Valencienne den CanCan zusammen mit dem Ballett tanzen. Kollegin Marianne, die wie Nora als Valencienne besetzt war, jubelte begeistert. Nora hingegen gereit völlig in Panik. Aber sie wollte unbedingt für die Premiere besetzt werden. Und so trainierte sie den CanCan, jeden Tag, im Ballettsaal mit den Tänzerinnen. Für die Ballett-Mädchen war das ein Spaziergang, für den sie sich nicht mal aufwärmten, für Nora die körperliche Herausforderung ihres Lebens. Als die Endproben losgingen, warf sie das Bein so hoch wie die anderen, und schlug Räder quer über die Bühne.
Nora wurde für die Premiere ausgewählt. Während der Hauptprobe hatte Nora beim CanCan plötzlich ziehende Schmerzen im linken Oberschenkel. Beim Radschlagen spürte sie, wie etwas riss, und ihr wurde sofort schwarz vor Augen. Ihr Kollege Hanno, der den Zeta sang, führte sie vorsichtig von der Bühne. Nora setzte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einen Rollwagen, der auf der Seitenbühne stand. Nora stiegen die Tränen in die Augen. Marianne kam hinter die Bühne. “Was ist denn los?”, rief sie. “Bist du o.k? Wenn nicht, soll ich soll weitermachen, hat der Regisseur eben gesagt.” Noras Kopf fuhr nach oben. Sie biss die Zähne zusammen, stützte sich auf Hannos Arm und meinte lächelnd zu Marianne: “Geht schon, ich bin wohl in irgendwas reingetreten.” Marianne zog die Brauen hoch, und ging in den Zuschauerraum zurück. Nora zwang sich, nicht zu humpeln und machte die Probe zuende. In der Nacht wurden die Schmerzen so schlimm, dass Nora morgens die Orchesterprobe absagte und zum Arzt kroch. Der diagnostizierte einen Muskelfaserriss, verordnete Krücken, absolute Ruhe, und riet ihr dringlichst, die Premiere abzusagen. Nora nickte, und verließ die Praxis. Sie zerriss das Rezept für die Krücken, humpelte ins Theater und machte die Probe zu Ende. Auf die Fragen der anderen meinte sie: „Eine leichte Zerrung, kein Problem!“ Nora machte die Premiere, und warf ihr Bein fast so hoch wie die anderen. “Auf der Bühne gibt es keinen Schmerz!”, sagte sie vor der Vorstellung ungeduldig zu Mark, als dieser besorgt in ihrer Garderobe auf und ab tigerte.
Marks Sommersemester ging mit mehreren Prüfungen zu Ende, und er bestand alle mit Auszeichnung. Drei Monate Semesterferien lagen vor ihm, bevor sein letztes und wichtigstes Studienjahr begann. Da Mark schon immer an asiatischer Kampfkunst großes Interesse gehabt hatte, schrieb er sich, sobald die letzte Prüfung hinter ihm lag, in einer Kung-Fu-Schule in Mannheim ein. Eines Nachmittags erzählte ihm sein Trainingspartner Mick stolz, dass er vor Kurzem in Coburg eine Zweigstelle der Mannheimer Kung-Fu-Schule eröffnet habe. Begeistert erzählte Mark am nächsten Wochenende Nora von diesem unglaublichen Zufall. Nora war glücklich. Bis jetzt hatte sie wegen der vielen Proben kaum ein Wochenende in Mannheim verbringen können. Das schlechte Gewissen hatte sie mehr schlecht als recht verdrängt. Als Mark nun von der Coburger Kung-Fu-Filiale erzählte, war sie erleichtert. Und Mark reiste enthusiastisch Wochende für Wochende nach Coburg, trainierte mit Mick, und besuchte Noras Vorstellungen.
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