Der Bischof sah den Superintendenten an und dachte nach. “Ich wäre ihnen dankbar, wenn Sie das für mich tun würden”, sagte er nach Minuten des Nachdenkens, wobei er offensichtlich an den bevorstehenden Ruhestand dachte, den er ohne vorherige Belästigung vonseiten der Gestapo erreichen möchte. “Ich hatte ihnen beim letzten Gespräch schon gesagt, dass ich in absehbarer Zeit in den Ruhestand treten werde. Da ist es mein Wunsch, Sie werden es verstehen, dass ich den Stand der beruflichen Ruhe auch in seelischer Ruhe betreten möchte.” Eckhard Hieronymus sah den Bischof erstaunt an. Der wiederum bemerkte, dass der Superintendent mit dieser Argumentation nicht übereinstimmte. So fuhr er fort: “Es muss mit einem neuen Bischof gerechnet werden, der für die Richtlinien im pastoralen Bereich verantwortlich ist. Ich weiß nicht, wer mein Nachfolger werden wird; noch wurde kein Name genannt. Es ist aber wahrscheinlich, dass bei der Besetzung des Postens Menschen mit Einfluss das Wort reden werden, die dem System weniger kritisch, vielleicht sogar wohlwollend gegenüberstehen. Ich kann meinem Nachfolger keine Vorschriften machen, so wie mein Vorgänger, Dr. theol. Kirchberger, der ein gebildeter Mann und ein großer Bischof war, mir keine Vorschriften gemacht hat.” Eckhard Hieronymus verstand mit diesen Zusätzen das Argument des Bischofs noch weniger, sich vor der Erstellung des Rundbriefes zu drücken. Denn damit hatte es nun nichts zu tun, dass ein Bischof dem anderen keine Vorschriften macht, weil ein Rundbrief in die Hoheit des Bischofs fällt, der zum Zeitpunkt der Erstellung, Niederschrift und Verteilung im Amt ist. Eckhard Hieronymus sah die Sackgasse vor sich, in die das Gespäch über den Rundbrief mündete, fragte nicht weiter, sondern sagte, dass er der Bitte des Bischofs nachkommen werde. Damit war Bischof Rothmann einverstanden und zufrieden. Die Erleichterung, an der Formulierung mit einer fragwürdigen und zweifelhaften Argumentation vorbeigekommen zu sein, war seinem Gesicht anzusehen.
Eckhard Hieronymus setzte sich noch am selben Tag an den Schreibtisch und entwarf den Brief, dem er folgenden Wortlaut gab:
Liebe Brüder im Glauben !
Wir leben in einer Zeit der großen Bedrängnis. Viele Menschen fallen dem Schwert des Krieges und dem Unverstand zum Opfer. Unter den Opfern sind auch unsere Brüder im Glauben, die das Wort Gottes verkündet haben. Wir alle wissen, dass die Verkündigung der Botschaft unseres Herrn Jesus Christus dem Heil der Menschen, dem Frieden und der Verständigung unter den Menschen dient. Hass und Zwietracht sind die Ursachen, dass sich die Menschen nicht verstehen. Doch die Waffen der Gewalt führen nicht zum Frieden und nicht zur Verständigung. Das ist eine Weisheit, die so alt ist wie der christliche Glaube an die Macht Gottes, die für die Wahrheit, Gerechtigkeit und Nächstenliebe steht. Gott will gnädig sein und die Sünden vergeben, wenn die Menschen ihre Sünden vor ihm bekennen. Dazu bedarf es der Öffnung der Herzen, des Mutes und der Demut, die begangenen Verfehlungen im Denken wie in den Taten zu bereuen.
Der Geist der Zeit ist gegen die Wahrheit, die wir zu verkünden haben. Mächtig schlägt das Böse zu, wenn die eine Macht größer sein will als die Macht Gottes. Aus diesem Machtkonflikt entstehen jene Unbilden, die durch Verdrehung der Wahrheit jene Monster hervorbringen, die durch Hass und Zwietracht weiter wuchern und den Menschen den Weg zur Verständigung und zum Frieden versperren. Diese Monster provozieren Missverständnisse, um die Wahrheit zu verzerren, unkenntlich zu machen, die sich doch nicht unkenntlich machen lässt, solange wir fest im Glauben zum Herrn Jesus Christus stehen.
Wenn wir auch fest im Glauben stehen und aus diesem Glauben unsere Kraft zur Verkündigung des Gotteswortes schöpfen, sind doch Vorsichtsmaßnahmen vor den monströsen Kraken angezeigt. Denn viele Gemeinden haben ihre Pastöre deshalb verloren, weil sie die Wahrheit verkündet und sie mit ihren Worten ausgelegt und schließlich mit ihrer Person und ihrem Leben für diese Wahrheit eingestanden sind. Die Gemeinden brauchen ihren Pastor, wie der Pastor seine Gemeinde braucht. Der Rat zur Vorsicht wird dahingehend präzisiert, dass sich die Auslegung des Wortes möglichst nah an den Bibeltext hält und von Ausschweifungen in die gegenwärtigen Zeitgeschehnisse absieht. Die Kirche muss in einer schweren Zeit ihren Auftrag erfüllen. Sie ist sich der Verantwortung vor Gott und den Menschen bewusst. Sie braucht jeden Pastor in seiner Gemeinde als Künder der Heils- und Friedensbotschaft. Um von kirchlicher Seite die Kontinuität der Verkündigung aufrecht zu erhalten, so gut es unter den gegebenen Umständen noch möglich ist, sollte den Missverständnissen vorgebeugt werden, sofern es in unserer Macht liegt.
Mit allen guten Wünschen und Gott befohlen!
Rothmann
Bischof
Am folgenden Tag legte Eckhard Hieronymus dem Bischof den Entwurf des Rundbriefes vor. Er las ihn sorgfältig ein-, zwei-, ja dreimal durch und verharrte am Ende mit bedenklicher Miene. Dann nahm er den Bleistift und setzte seine Korrekturen an. Den zweiten Satz mit dem “Schwert des Krieges” und dem “Unverstand” strich er mit der Bemerkung durch, dass das Wort “Unverstand” falsch interpretiert würde, wenn der Brief in falsche Hände gerät. Zum dritten Satz, dass unter den Opfern auch die Brüder des Glaubens seien, die das Wort Gottes verkündet haben, äußerte er seine Bedenken, ließ ihn aber stehen, da er wahr war, wenn auch unterschiedlich ausgelegt werden konnte. Den Satz, dass die Waffen der Gewalt nicht zum Frieden und nicht zur Verständigung führen, änderte er ab in: “Wir müssen das Wort zum Frieden und zur Verständigung finden”. Das erklärte er wieder mit dem Missverstehenwollen, wenn der Brief in die Hände der Gestapo fällt, denen für das Wort “Frieden” schon das Verständnis fehle, weil in deren Köpfen das Phantom des Stärkeren über den Schwächeren rumspukt. So änderte er auch den Satz von der Weisheit ab in: “Die Weisheit, die aus dem christlichen Glauben kommt, ist die Weisheit aus der Wahrheit, dass Gott die Menschen zur Gerechtigkeit und Nächstenliebe ermahnt.” Beim wiederholten Lesen des zweiten Abschnittes meinte der Bischof, dass es besser sei, diesen Abschnitt ganz wegzulassen. Eckhard Hieronymus widersprach dieser Meinung, weil der Text dieses Abschnittes die Erklärung gebe, warum Vorsicht bei der Predigt geboten sei. Der Bischof, der diesem Text die Wahrheit nicht absprach, gab mit dem Stirnrunzeln der größeren weltlichen Erfahrung nach und ließ den Abschnitt mit der Bemerkung stehen, dass er höchst problematisch sei. Im letzten Satz des dritten Abschnitts strich er den Zwischensatz “so gut es unter den gegebenen Umständen noch möglich ist” aus denselben Gefahrengründen ersatzlos durch. Ansonsten blieb der Text, wie er entworfen war. Mit dem Bischof als Unterzeichner des Briefes war der Bischof nicht einverstanden. Eckhard Hieronymus hatte es geahnt. Da kam er wieder mit dem fadenscheinigen Argument des baldigen Ruhestandes, den er heil antreten möchte, ohne in seinen letzten Berufstagen von der Gestapo in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Eckhard Hieronymus versuchte ihn von den Bedenken eines Verhörs aufgrund des Briefinhalts abzubringen und wies auf die Ordnungsmäßigkeit hin, dass ein pastoraler Rundbrief vom Bischof zu unterzeichnen ist. Der Versuch war umsonst. [ Schon wenig später sollte Eckhard Hieronymus erkennen, dass der Bischof die List und Hintertriebenheit der Gestapo besser kannte und er seine Fehleinschätzung teuer bezahlen sollte .] Stattdessen schlug der Bischof vor, dass der Superintendent den Brief in seiner Vertretung unterschreiben solle. Eckhard Hieronymus hatte seine Bedenken der Ordnung wegen. Auch befürchtete er, dass die Kollegen mit diesem von ihm unterschriebenen Rundbrief ein sich Hervortun des Superintendenten Dorfbrunner sehen könnten, was ein Missverständnis gleich zu Beginn wäre, das Eckhard Hieronymus nicht wollte und in diesem Fall auch nicht zu verantworten hätte. Schließlich willigte er mit dem Unbehagen der verschobenen und falsch zu verstehenden Verantwortlichkeit ein. Die Sekretärin des Bischofs, eine Dame im mittleren Alter und langjährige Mitarbeiterin, tippte den Brief in die Maschine und legte ihn am nächsten Tag dem Superintendenten zur Unterschrift vor.
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