Das Auto wurde beladen.
„Kein Platz mehr hier!“, sagte der Fahrer.
Träume ich? Nein. Bin ich wach? Nein.
“Los geht`s, Kleiner. Wir können fahren.“
„Wohin?“
„Zu deiner neuen Familie.“
„Warum?“
„Dort kommst du in die Schule“
Das Auto fuhr, ich schlief ein. Wach wurde ich wieder, als es anhielt. Stimmen murmelten. Ich ließ meine Augen geschlossen. Jemand trug mich ins Haus, legte mich in ein Bett. Eine Tür fiel ins Schloss. Die Stimmen verschwanden dahinter. Ich öffnete die Augen. Es war dunkel. Es war warm.
Ich hörte ein Lied. „Kling, kling, kling, glitzernd Ding. Güldene Reifen, kostbare Ringlein, kling, kling, kling…“, tönte es durch die Tür zu mir herein. Sind das Engel, die singen? Hier gibt es Engel! Sie tanzten einen Reigen um mich. Ich wiegte meinen Kopf, fühlte mich eingeladen zu ihrem Tanz.
Am Morgen lugte ich durch die Wohnzimmertür. Ob sie noch da sind? Ich sah niemand. Plötzlich wieder das „Kling, kling, kling …“.
Unter einer Glashaube drehte ein weißes Püppchen Pirouetten. Mein Engel in der ersten Nacht.
Sanft sagte jemand: „Guten Morgen, kleiner Mann!“
„Guten Morgen. Wo bin ich?“
„Zu Hause. Willkommen Peter, ich bin Fanny.“
„Bist du jetzt meine Tante?“
„Nein, ich bin das Hausmädchen bei Familie Bern. Deine neuen Pflegeeltern sind Tante Alice und Onkel Leopold. Du wirst sie heute Nachmittag sehen. Sie freuen sich auf dich. Und deine Mutter erst! Du kannst sie am Sonntag besuchen.“
Ein Sonntag bei Mutter.
Im Dachzimmer über der Bäckerei gab es kein Wasser. Mutter holte es vom Hof des Nachbarn. Ich schaute zu, wie sie den Holzeimer auf den Sims unter den Wasserfall setzte.
Der Brunnen war ein umgeleiteter Wasserfall. Das Wasser sprudelte aus dem Mund einer bemalten Holzplastik, die dem Kopf des Bauern nachgebildet war. Grüner Hut, roter Schnurrbart.
Mutter ging wieder hinauf, ich blieb im Hof, der vielleicht auch ein Garten oder ein Feld gewesen ist. Ich war sechs Jahre alt. Das Gras reichte mir bis zu den Schultern und verfing sich in den Trägern meiner Lederhose.
Ich untersuchte eine modernde Holzplatte, betrachtete die unter der Anfahrt zur Tenne hängenden Heu-Heinzen. Wenn sie auf den Wiesen standen und frisch gemähtes Gras an ihnen hing, sahen sie aus wie grüne Zwerge.
Ich schaute zum Heuboden hinauf. Zu hoch. Eine Leiter nicht in Sicht. Darunter der Stall, in dem die Kühe standen. In der Ecke eine Rolle Stacheldraht. Ich ging weiter, schlug mit einem Stöckchen nach den Brennnesseln, stocherte in dem Tonkrug herum, der Scherben einer zerbrochenen Kaffeekanne barg. Was die Erwachsenen als Müll ansahen, wurde für mich zu interessanten Studienobjekten.
Ich langweilte mich nicht, doch hätte ich gern jemand zum Spielen gefunden. Kaum gedacht, erfüllte sich der Wunsch: Ein großer bunter Vogel kratzte im Sand und gab glucksende Laute von sich. „Bist du aber schön. Wollen wir spielen?“
Ich imitierte das Glucksen, kratzte mit meinem Stöckchen und warf den Sand in seine Richtung.
Plötzlich lautes Geschrei und der Vogel stürzte sich auf mich. Ich rannte in den Stall hinein, suchte Schutz in der Stacheldrahtrolle. Vergeblich. Das Ungeheuer verfolgte mich, sprang mich an. Ich hielt Hände und Arme vors Gesicht, spürte seine Krallen auf der Brust, Stiche an der Stirn. Warmes Blut lief über meine Wangen. Ich schlug wild um mich und rannte ins Haus. Ermattet kroch ich die letzten Stufen bis zu Mutters Zimmer.
„Was ist passiert? Wer hat dich gehauen?“
Sie hob mich auf, setzte mich auf einen Stuhl, holte ein Tuch, tauchte es in warmes Wasser und wischte das Blut aus meinem Gesicht.
Stunden später nahm mich Mutter bei der Hand und ging mit mir zur Stacheldrahtrolle. Daneben stand der Bauer. In der Rolle lag der Kopf des Ungeheuers auf einem Blechteller. „Der wird dir nie wieder etwas tun“, sagte der Bauer.
Das Ungeheuer war einer seiner Hähne, der schon öfter Menschen angegriffen hatte.
Das kleine Haus von Alice und Leopold lag an einem Berghang. Auf der einen Seite blickten wir nach unten zur Skipiste. Auf der anderen hörten wir von oben Tennisplatzgeräusche.
Klein war es eigentlich nicht, es hatte sechs Gäste-zimmer. Mir schien es trotzdem winzig, weil wenig Raum für mich war.
„Peng! Zurück! Netz! Aus! Wechsel!“
Da spielten sie wieder. Ich stieg hinauf und sah den Bällen zu.
„Na Kleiner, willst mitspielen?“, fragte jemand.
„Der muss noch wachsen“, meinte ein anderer.
„Kannst die Bälle für uns holen, lernst was und kriegst 30 Pfennig die Stunde, was sagst?“
Ich überlegte nicht lange. An den Breitseiten des Platzes standen hohe Zäune. Nach vorn und hinten konnten die Bälle weiter fliegen. Na und? Ich war gerne draußen, mochte Bewegung, hatte eine gute Kondition, und der Verdienst kam mir gelegen.
Wenn die Sonne besonders stark brannte, dachten die Spieler, der Balljunge würde mindestens so erschöpft sein wie sie und gaben mir oft ein Zehnerl mehr als vereinbart.
Vermögend wurde ich nicht. Im Winter gab ich das Ersparte groschenweise wieder aus. So viel kostete eine Fahrt mit dem Skilift. Stundenlang sauste ich immer wieder den Hang hinab. Unten klemmte ich mich an das Seil und ließ mich vom Lift wieder bergauf ziehen. Das Seil war nass und kalt. Wenn der Abstand zwischen den „Gelifteten“ groß war, hing es auf der Erde und schleifte durch den Schnee. Mit klammen Fingern hielt ich mich fest. Oben entschied ich: noch einmal. Und noch einmal. War mein Geld aufgebraucht, stellte ich mich neben den Liftbetreiber.
“Kummst ja scho wiada“, lachte er, hängte mich ans Seil und ließ mich gratis hinauf.
Mein Leben im Hause Bern spielte sich vor allem außerhalb des Hauses ab. Im Sommer auf dem Tennisplatz. Oft Anstrengend, doch das brachte Geld ein. Im Winter auf der Skipiste. Purer Spaß, für den ich die Groschen gern bezahlte.
So verging die Zeit.
Immer gleich?
Nein.
Tante Alice liebte das Einzigartige. Im Sommer schmückte sie die Gästezimmer gern mit Enzian. Sie legte die dunkelblauen Blüten in Dessertschalen und dekorierte damit Tische.
Die Bewunderung der Besucher war ihr sicher. Viele hatten auf ihren Wanderungen selbst nach der seltenen und berühmten Blume gesucht. Vergeblich. Die in 1500 Meter Höhe gelegene Enzianwiese war unser Geheimnis. Auch von der gelegentlichen Ernte sollte niemand wissen, denn die Pflanze stand unter Naturschutz.
Wieder einmal kraxelten Tante Alice, Fanny und ich mit einer Tischdecke ausgerüstet den Berg hinauf. Mittags waren wir losgegangen, am frühen Abend kehrten wir mit der Beute heim. Kaum hatten wir die blaue Blumenpracht aus der Tischdecke geschält, trat der Dorfgendarm Brodinger auf die Veranda. Er hatte hinter dem Haus auf uns gewartet. Er war bekannt für seinen Eifer und konnte äußerst ungemütlich werden. Ein Dienstmädchen, das beim Stehlen erwischt worden war, hatte er persönlich über die Berge ins Bezirksgefängnis gebracht.
„Was haben wir denn da, Frau Bern?“
Mit verschränkten Armen stand er vor uns.
„Wer hat uns verpfiffen, Herr Brodlfinger, äh Herr Brotfinger, hm … Brodinger?“
Auf den Mund gefallen war Tante Alice nie. Den Brodinger beeindruckte sie nicht.
„Alle Enziane zählen!“
Das Bußgeld wurde teuer. Hätten wir doch weniger gefunden! Immerhin, ins Gefängnis mussten wir nicht.
Wir erfuhren nie, wer uns verraten hatte. Wahrscheinlich ein Neider. Ein Gerechtigkeitsapostel. Als ob die anderen immer gut und ehrlich wären! Wie war denn das mit Bauer Birgel? Der verdünnte Milch. „Sauba muaß die Kannen sei, gell“, sagte er und hielt mein Gefäß unters Wasser.
Читать дальше