Als die Damen jedoch feststellten, dass Samuel geflüchtet war, wurde es erst richtig laut. Wie wilde Tiere begannen sie zu kreischen, zu jaulen und zu fauchen. Samuel stellten sich die Nackenhaare auf. Es hörte sich an, wie ein mit Löwen gefüllter Käfig, in den man ein Schaf geworfen hatte. Sie rannten aus ihrem Raum heraus, doch kaum befanden sie sich auf dem dunklen Flur, kehrten sie um und eilten zurück zu ihrem Raum. Vielleicht hatten sie in der Vergangenheit schon einmal Bekanntschaft mit dem menschenfressenden Monster gemacht? Die Dunkelheit schien ihnen zu gefährlich, um Samuel zu verfolgen. Was noch hinzukam war die Tatsache, dass sie nackt und somit leichte Beute für die Wachsoldaten waren.
Samuel hatte sich mittlerweile weit genug entfernt und war von der Dunkelheit verschluckt.
Die Damen war er los, nun gab er sich Mühe, möglichst lautlos über den Boden zu schleichen. Es war nicht ganz einfach, denn er trug Schuhe mit harten Sohlen, die bei jedem Schritt Geräusche verursachten. Er hätte sie ausziehen können, doch dann wäre es gefährlich für seine Füße geworden. Wer weiß, ob hier irgendwo Glas herumlag. Schließlich konnte er ja fast nichts sehen.
Samuel musste zusehen, dass er mehr Abstand zu den Tänzerinnen gewann. Es schien ihm plötzlich, als würden sie ihn doch noch verfolgen. Ihr Gekreische wurde wieder lauter.
Während seiner Flucht musste er höllisch aufpassen, denn in so einem dunklen Gang konnte man sehr schnell mit Gegenständen kollidieren, die die Dunkelheit versteckte.
Samuel hatte Glück. Nichts stellte sich in seinen Weg.
Nun wurde das Geschrei der Mädchen endlich wieder leiser. Er verspürte ein Gefühl der Erleichterung. Spontan wagte er einen Blick in die weiteren Räume, die links und rechts vom Gang abzweigten. Doch überall sah er nur nackte Haut. Er befürchtete, dass auch diese Damen sofort über ihn herfallen würden, falls sie ihn entdecken würden.
Das Schlimmste in derartigen Situationen war die eigene Fantasie. Sie konnte einem das Leben schon ziemlich schwer machen. In seiner Fantasie sah er viele Dinge, die gar nicht existierten.
Samuel ging leise und vorsichtig immer weiter geradeaus. Doch je weiter er ging, desto mehr gewann er den Eindruck, im Kreis zu laufen. Stets wiederholte sich der Anblick. Er hatte keine Zeit, sich die Gesichter der Mädchen einzuprägen. Zu genau durfte er sie sich nicht ansehen, denn dann hätten sie ihn vermutlich sofort entdeckt. Kurz hinschauen und weiterschleichen war seine Devise. Und bloß nicht entdeckt werden.
Warum sehen die alle gleich aus? Irgendetwas stimmt doch hier nicht. Ich muss versuchen, mir eine von ihnen genauer einzuprägen. Hätten sie doch bloß Kleidung auf ihrem Leib, dann könnte ich mir ein Muster einprägen. Aber die sind alle blond und haben lange Haare. Und ihre Gesichter sehen auch alle gleich aus. Laufe ich im Kreis? Nein, das kann nicht sein, ich laufe doch die ganze Zeit geradeaus. Und doch sehen sie gleich aus? Vielleicht sollte ich einer von ihnen einen Punkt auf den Hintern malen. Wenn der dann immer wieder auftaucht, weiß ich, dass ich was falsch mache. Und auch der verfluchte Gang sieht immer gleich aus. Er verläuft stets geradeaus. Es könnte aber eine Täuschung sein. Vielleicht ist es einfach nur zu dunkel, und ich merke gar nicht, dass ich im Kreis laufe.
Plötzlich ein Lichtblick: Es wurde heller. Oder schien es ihm nur so? Nein, es wurde tatsächlich heller. Samuel hatte den Eindruck, dass er den Fußboden jetzt etwas detaillierter erkennen konnte. Noch immer war es zu dunkel, um Details auf dem Boden zu sehen, aber die Umrisse der Steine wurden ein wenig klarer.
Da hinten! Das scheint das Ende des Ganges zu sein. Zumindest sieht es so aus. Es sind vermutlich noch hundert Schritte, dann sollte ich dort angekommen sein. Wie groß muss dieses Gebäude sein, wenn ich seit einer Ewigkeit geradeaus laufe und kein Ende finde? Es muss ein gewaltiger Bau sein. Oder vielleicht ist es gar kein Gebäude, sondern nur ein unterirdischer Gang, der von außen gar nicht als Gebäude sichtbar ist?
Einerseits vom Enthusiasmus getrieben, andererseits von seiner Vernunft gebremst versuchte Samuel weiterhin, möglichst leise zu gehen, dabei aber schnell zu sein. Er wollte möglichst wenige Geräusche erzeugen. Eigentlich hätte er völlig unbesorgt ohne Schuhe laufen können. Bisher gab es nicht ein einziges Mal einen triftigen Grund zur Sorge. Es lagen keine Scherben herum, diese hätte er sicher auch durch die Schuhe gespürt. Aber wie der Teufel es in der Regel wollte, würde er genau in dem Moment, wenn er die Schuhe ausziehen würde, in eine Scherbe oder auf einen spitzen Gegenstand treten. Bei seinem Glück musste es einfach so kommen.
Das vermeintliche Ende des Ganges - ein helles Leuchten - kam immer näher. Als er sich dem Licht näherte, verringerte er seine Geschwindigkeit immer mehr. Schließlich wusste er nicht, was ihn dort erwartete. Lauerten dort weitere Gefahren? War das vermeintliche Ende des Ganges gar kein Ende? War es vielleicht wieder der Anfangspunkt seines Albtraums? Die letzten zwanzig Schritte ging er sehr langsam und vorsichtig, fast so, als würde er über Eierschalen schleichen. Eine herunterfallende Stecknadel wäre laut dagegen gewesen. Selbst das Atmen versuchte er zu unterdrücken, doch je mehr er dies versuchte, desto mehr quälte ihn das Bedürfnis, richtig tief Luft zu holen. Samuel hielt sich ein Tuch vor den Mund, das er soeben aus seiner Hosentasche gezogen hatte, um seine Geräusche zu dämpfen.
Endlich am Ende des Ganges angekommen steckte er vorsichtig seinen Kopf durch den schmalen Ausgang. Er kniff die Augen zusammen, das Tageslicht brannte regelrecht, so sehr hatte er sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt. Er blickte nur mit einem Auge nach draußen, das andere hielt er aus taktischen Gründen mit der Hand verschlossen.
Schnell gewöhnte sich das geöffnete Auge an das helle Licht. Endlich wieder Sonnenschein. Er sah Bäume, Blätter, Büsche und einen Weg, aber er konnte keine Menschen entdecken. Ein gutes Zeichen, denn so musste er nicht fürchten, schon wieder flüchten zu müssen. Er drehte sich um und blickte mit dem vom Licht geschützten Auge in die Dunkelheit. Er wollte kontrollieren, ob sich jemand von hinten unbemerkt angeschlichen hatte. Zu seiner Zufriedenheit konnte er weder jemanden entdecken noch hören.
Jetzt konnte Samuel einen Schritt nach draußen wagen. Vorsichtig kontrollierte er die Umgebung. Er blickte nach links und rechts, nach oben und auch nach unten. Von überall hätte sich ihm jemand nähern können, doch er sah keine Gefahr.
Samuel entspannte sich ein wenig. Seine Muskulatur, die die ganze Zeit bis zum Bersten angespannt war, durfte sich das erste Mal wieder lockern.
Erst jetzt, da sich seine Angst vor einer möglichen Gefahr legte, betrachtete er die wunderschöne Landschaft. Er entdeckte bunte Blumen, große Insekten, unglaublich schöne Bäume und einen kleinen Wasserfall, der ungefähr zwanzig Schritte vor ihm in die Tiefe rauschte und dabei große Nebelwolken versprühte. Die Luft duftete sehr würzig, und die Sonne prickelte wie tausend Stecknadeln auf seiner Haut. Es fühlte sich an, als befände er sich im Süden, wo die Sonne endlos schien.
Wo bin ich? Es ist wunderschön in diesem Wald. Noch nie habe ich so eine traumhaft schöne Landschaft gesehen. Vielleicht gibt es hier Elfen, Zwerge und Zauberer. Oder Gnome? Hoffentlich gibt es keine Riesen, ich habe Angst vor ihnen.
Ach was, wieso habe ich so eine Angst? Hier ist doch gar nichts. Alles ist wunderbar. Ich glaube, die Dunkelheit in diesem verfluchten Gang hat meine Fantasie beflügelt, dass ich nun Angst vor Dingen habe, die gar nicht existieren. Das Böse habe ich hinter mir, jetzt kann eigentlich nur noch das Gute kommen.
Noch immer konnte Samuel keine Menschen entdecken, dafür sah er plötzlich kleine zwergähnliche Lebewesen im Unterholz herum huschen, die ihm in etwa bis zum Knie reichten. Ob sie ihn bereits entdeckt hatten?
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