1 ...6 7 8 10 11 12 ...26 Sie waren wirklich winzig, sahen aber aus, als wären sie wesentlich älter, als er. Einige schätzte er auf über hundert Jahre. Aber trotz ihres vermeintlich hohen Alters bewegten sie sich flink wie Wiesel.
Ständig trugen sie etwas auf ihren Schultern, sägten, schnitten oder sammelten Äste und Zweige, pflückten Beeren und Pilze und legten die Waren in ihre kleinen Körbe.
Bewegungslos schaute Samuel ihnen zu. Er dachte, dass sie weglaufen würden, würde er sich zu schnell bewegen.
Die kleinen Männlein und Weiblein bewegten sich zwischen den Büschen hin und her und raschelten in den abgestorbenen Blättern. Wirklich gut sehen konnte er sie nicht. Sie waren zu gut versteckt. So sehr er sich auch anstrengte, konnte er nicht ausmachen, um welche Art von Spezies es sich handelte. Bald sahen sie aus wie Gartenzwerge. Doch seit wann gab es lebende Gartenzwerge? Sie waren doch bloß eine Erfindung der Märchenerzähler. Und wie konnten es so viele sein? Überall bewegte sich plötzlich die Natur. Büsche wackelten hin und her, Blätter und Beeren verschwanden, vermutlich ernteten sie diese gerade. Sie schienen ihn nicht bemerkt zu haben, oder er erweckte nicht ihr Interesse. Also entfernte er sich einen weiteren Schritt vom Ausgang, durch den er gerade getreten war. Gleich fühlte er sich wohler, denn so ein dunkler Durchgang im Rücken barg immer gewisse Risiken. Es hätte ja doch noch jemand von hinten auf ihn zu kommen können, um ihn zu überfallen oder ähnlich unangenehme Dinge mit ihm zu tun. Sollte nun jemand aus dem Hinterhalt gestürmt kommen, würde er an Samuel vorbeilaufen. Er positionierte sich taktisch so gut, dass man ihn vom Inneren des Ganges aus nicht sehen konnte.
Der Himmel leuchtete intensiv blau, keine Wolke war zu sehen. Jedoch wurde er stets heller. Die Sonne brannte mittlerweile in seinen Augen, sodass er sie schützen musste. Er hielt seine Hand wie einen Schirm über die Augen und betrachtete mit zusammengekniffenen Lidern die Natur. Dabei stellte er fest, dass der Himmel mittlerweile annähernd schneeweiß war. Auf keinen Fall konnte er jetzt noch nach oben blicken. Gezwungenermaßen blickte er auf den Fußboden. Von der schönen Natur mit ihren kleinen Zwergen konnte er nichts mehr erkennen. Es war viel zu hell. Tränen liefen sein Gesicht herunter, die Muskulatur seiner Augen verkrampfte sich bereits. Das Licht schmerzte.
Plötzlich rief jemand seinen Namen.
„Samuel!“
Er erschrak und wollte sich schnell verstecken, doch es wollte ihm nicht gelingen. Etwas Unsichtbares verhinderte, dass er sich bewegen konnte. Erst jetzt merkte er, dass er gar nicht mehr stand, sondern auf etwas lag. Unsicher betrachtete er sein Umfeld, konnte jedoch nichts erkennen. Alles war verschwommen und undeutlich.
Samuel tastete alles ab, was er mit den Armen erreichen konnte und fühlte etwas Weiches unter sich. Nun wurde es wieder dunkler, er konnte die Augen endlich wieder öffnen. Verwundert stellte er fest, dass er in einem Bett lag und von Kabeln und Schläuchen gefesselt war.
An diversen Stellen hatte man ihm Klebestreifen und Sensoren auf die Haut geklebt, vermutlich um seine Vitalfunktionen zu überwachen.
„Er wacht auf“, vernahm er aus der Ferne. Es klang, als würde jemand in ein langes Rohr hineinsprechen und man selbst am anderen Ende lauschen.
Er traute seinen Augen nicht, als er wieder klar sehen konnte, denn er blickte in das langweilige Gesicht einer Krankenschwester, die durch eine Atemschutzmaske verunstaltet war. Neben ihr stand ein Arzt, der gerade auf die elektronischen Überwachungsgeräte schaute. Auch er trug so eine seltsame Maske. Beide trugen zudem blaue Gummihandschuhe.
„Wo bin ich?“ Samuels Stimme klang ziemlich dünn und verunsichert.
„Hallo Samuel. Schön, dich wieder unter uns zu haben. Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht, denn du hattest einen Herzstillstand. Wir hatten befürchtet, dass du nicht mehr aufwachen würdest, doch plötzlich bist du wieder wach und erweckst den Eindruck, als wäre nichts gewesen.“
Der Arzt nahm Samuels Hand und hielt sie fest.
„Wir haben dich reanimiert und hoffen, dass es keine Folgen nach sich zieht. Fühlst du dich gut?“
„Ja, alles prima. Ich war tot? Richtig mausetot?“
„Ja, das warst du. Unser Problem war, dass dein Herz anfangs nicht wieder anspringen wollte. Es war bockig. Aber dann haben wir gewonnen.“
„Höchst erfreulich, sonst wäre ich jetzt wohl hinüber.“
Der Arzt sagte nichts, doch seine Mimik bestätigte Samuel seine Vermutung.
„Du hattest sehr viel Glück. Dein Körper hat sehr schwer damit zu kämpfen, deine Viruserkrankung auszukurieren.“
„Ein Virus? Was für ein Virus? Habe ich eine Grippe?“
„So etwas Ähnliches, nur viel schlimmer, deshalb tragen wir die Schutzmasken.“
Erst jetzt realisierte Samuel, dass er nicht mehr vor dem Eingang zum Verlies des Schlosses in der schönen Natur bei den kleinen Zwergen stand, sondern dass er in einem tristen Krankenhauszimmer in einem ebenso tristen Bett lag. Er war wieder wach. Leider war alles nur ein Traum gewesen, in den er am liebsten wieder zurückgegangen wäre. Leider funktionierte das nicht auf Kommando.
Und anstatt sich von nackten Tänzerinnen verwöhnen zu lassen, bekam er Medikamente und Aufbaupräparate in die Adern gepumpt, sodass er wieder über mehr Abwehrkräfte verfügte.
„Samuel, du bist nur ganz knapp dem Tod entronnen, nicht nur wegen des Herzstillstandes, den du hattest. Du trägst das sogenannte Zika-Virus in dir.“
Der Arzt schob sich die Lesebrille vor die Augen und las in den neuesten Laborberichten, die er auf seinem Klemmbrett mit sich führte.
„Es kann auf dein Gehirn übergehen und dort erheblichen Schaden anrichten. Dies müssen wir unter allen Umständen verhindern. Bei Menschen mit einem schwachen Abwehrsystem kann es zum Tod führen. Wir sind aber davon überzeugt, dass du ein sehr gutes Abwehrsystem hast. Dennoch ist dies kein Grund zum Aufatmen. Wir müssen das Virus sehr ernst nehmen. Dieses verfluchte Virus ist in Brasilien besonders häufig anzutreffen. Es wird durch Sex, aber auch durch Mücken übertragen. Auf welche Weise du es dir eingefangen hast, ist irrelevant. Ob du dort Sex hattest, oder ob du bloß von einer infizierten Mücke gestochen wurdest, führte zum selben Ergebnis. Du trägst jetzt das Virus in dir.“
„Ich hatte keinen Sex. Also muss es eine verdammte Mücke gewesen sein. In jedem Urlaub werde ich von Mücken gestochen. Aber noch keine hat mich mit einem Virus infiziert. Dämliche Mistviecher! Kann ich denn nicht dagegen geimpft werden?“
„Nein, leider nicht. Wir können dich nicht gegen etwas impfen, was sich bereits in deinem Körper befindet. Dein Körper weiß mit dem Virus nichts anzufangen. Hätten wir dich vor deinem Urlaub geimpft, hätte dein Immunsystem Abwehrkräfte dagegen entwickeln können, ohne dass Schaden entsteht. Aber nun ist ein aktives Virus in dir, und das kann weiß Gott erheblichen Schaden anrichten. Impfen wäre jetzt sinnlos. Zudem existiert auf dieser Welt noch kein Serum.“
Samuel verlor sämtliche Farbe aus dem Gesicht.
„Muss ich jetzt sterben?“
„Wir werden alles tun, um dies zu verhindern. Aber wir können nichts garantieren. Du und dein Körper, ihr müsst dagegen ankämpfen, egal mit welchen Mitteln. Ein Virus ist verflucht klein. Ich hoffe, dein Immunsystem findet es und entwickelt eine Abwehrstrategie.“
Samuel schossen plötzlich Tränen in seine Augen.
„Scheiß Aussichten! Ich will noch nicht sterben!“
„Wir würden dir so gerne helfen, aber die Natur ist manchmal sehr unbarmherzig. Kämpfe! Kämpfe dagegen an. Dein Körper muss es selbst besiegen.“
Menschen in Schutzkleidung kamen in sein Krankenzimmer gelaufen. Völlig verstört betrachtete Samuel die unwirklich wirkenden Gestalten. Sie räumten die weiteren Betten und Nachttische aus dem Zimmer und bauten eine Quarantänestation auf. Es dauerte nur ein paar Minuten, und schließlich befand sich ein riesiger Kleiderschrank aus durchsichtiger Plastikfolie im Raum, der ihn hermetisch von der Außenwelt abschirmen sollte. Anschließend schoben sie ihn in diesen Würfel und schlossen Luftschläuche daran an, die mit einem Filter verbunden waren.
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