Die fahrbare Trage war längst vorbereitet und wurde an Peter herangeschoben. Aus seinem Arm hing ein langer Schlauch, der in ein flaschenartiges Plastikgefäß mündete, das von einem der Sanitäter in die Höhe gehalten wurde. Vier andere hoben Peter auf die Trage, legten ihn vorsichtig hin und schnallten ihn fest. Nun bewegte sich alles Richtung Ausgang. Nachdem meine Person keinerlei Beachtung fand, rief ich der Gruppe hinterher:
»Wo bringen Sie ihn hin?«
Ich konnte nicht ausmachen, wer mir antwortete, war aber dankbar, dass überhaupt jemand auf meine Frage reagierte. Das Ziel war die Klinik, die ich am Telefon genannt hatte.
»Der Professor ist schon verständigt und auf dem Weg in den OP! Wir müssten es in sieben Minuten schaffen! Alles Gute für Sie!«
Dann eilte der Feuerwehrkommandant an mir vorbei und drückte kurz aber mitfühlend meine Hand.
»Scheiße, Scheiße! Das Herz! Alles Gute!«
Sekunden später war die Wohnung leer.
Diese letzten, eiligen Worte hallten in mir nach. "Scheiße, Scheiße! Das Herz!" Bisher hatte ich gedacht, Peters Herz wäre vollkommen in Ordnung. War ich jetzt beunruhigt? Nein, na ja eine Spur, aber nur ganz kurz. Ich wusste ja, dass Peters Herz gesund war. Verwechslungen von Aneurysmen mit Herzerkrankungen kamen oft vor. Meines Wissens nach verband die beiden Erkrankungen nichts, außer vielleicht ihre Bedrohlichkeit – und natürlich die Notwendigkeit einer schnellen Behandlung. (Wie ich später erfuhr, hatte der Feuerwehrkommandant aufgrund der gebotenen Eile auf einen Herzinfarkt geschlossen.)
Ich ging mit Jonas auf den Balkon. Drei Minuten später schwoll das Motorengeräusch an und der startende Hubschrauber stieg vor unseren Augen auf. Ich sah auf die Uhr und fasste zusammen: Vier Minuten vom Anruf bis zum Eintreffen der Notärzte, weitere vier für die Transportvorbereitungen des Patienten. Drei Minuten bis zum Hubschrauber, sieben Minuten Flug. Schätzungsweise weitere fünf Minuten bis in den Operationssaal. Wow! Was für eine Leistung! Was für ein perfekt ineinandergreifendes System! Ich war begeistert, dass so etwas möglich war! Dann addierte ich die Zeiten: dreiundzwanzig Minuten – Mist. Bei einem Platzen der Aorta hat man höchstens zwanzig Minuten Zeit, um das Leben des Patienten zu retten. Ich rechnete nochmal, ließ die fünf Minuten bis zum OP als Variable offen und hoffte auf Rückenwind beim Flug.
»Schau, Jonas, da fliegt der Papa.«
Ich winkte, bis der Hubschrauber über den Hausdächern verschwunden war. Jonas sah mich an, als sei ich nicht ganz bei Verstand, sprach aber noch immer nicht. Er wurde mir langsam schwer auf dem Arm, als ich jedoch das Chaos im Wohnzimmer betrachtete, umklammerte ich ihn noch fester. Die Möbel standen nicht mehr an ihrem Platz. Der Boden war übersät mit Infusionsnadeln, Schläuchen, Klebebändern, leeren Kanülen und aufgebrochenen Glasampullen, die sehr scharfe Kanten hatten. Die meisten hatten die gleiche Aufschrift: DIAZEPAM. Ich erinnerte mich. Die Ärzte hatten immer wieder eine Dosis injiziert, bis Peters Blutdruck und sein rasender Puls endlich gesunken waren. Für seine hundert Kilo Körpergewicht hatte es offensichtlich etwas mehr gebraucht.
Jonas streckte seine Hand aus und zeigte stumm auf seinen Schnuller am Boden.
»Weißt du was, Jonas. Heute ist dein Glückstag. Du bekommst einen neuen Schnuller.«
Ich ließ ihn zwischen zwei bunt verpackten Modellen auswählen, stülpte mir einen Handschuh über und stellte den Mülleimer mitten ins Wohnzimmer.
»Viele Leute mit schmutzigen Schuhen sind heute hier durchgegangen. Wir werfen einfach alles weg, was auf dem Boden liegt und du passt auf, dass ich nichts übersehe.«
Als sein Schnuller im Müll landete, zuckte Jonas ein wenig, zeigte dann aber auf jeden noch so kleinen Glassplitter. Diese Prozedur dauerte.
Danach wusste ich nicht so recht, was ich anfangen sollte. Eigentlich wollte ich hinterherfahren. Aber Peter hatte sowohl das abgelehnt, als auch die Benachrichtigung seines Bruder. Er sagte, die Anwesenheit von Familienmitgliedern oder auch Freunden im Krankenhaus wäre sinnlos und für ihn nur eine Belastung. Ich würde sowieso telefonisch über alles informiert werden.
Gefühle der Angst durchfluteten mich. Ich wollte meinen Peter wiederhaben. Ich konnte mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen.
Um mich abzulenken, entschied ich mich für ein Spiel mit Jonas, bei dem man von verdeckt aufgelegten Karten jeweils zwei zusammengehörige finden und umdrehen musste.
Ich verlor.
08. Wandernder Nierenstein
Es war tief in der Nacht, als das Telefon klingelte. Es waren viele Stunden vergangen, seit Peter abgeholt worden war. Ob es schon eine Diagnose gab? Ob diese bewundernswerte Truppe es wohl geschafft hatte, Peter rechtzeitig in die Klinik zu bringen? Was war geschehen in diesen Stunden? War die Prothese gerissen? Oder hatte sich unbemerkt an anderer Stelle ein Aneurysma gebildet und war geplatzt? Meine Hand zitterte, als ich zum Hörer griff. Wieder musste ich mit allem rechnen und wieder war ich nicht bereit.
Überraschenderweise war Peter selbst am Apparat. Ich weiß, den Satz hatten wir schon – und am liebsten würde ich ihn noch unzählige Male wiederholen.
Seine Stimme klang noch etwas benommen, aber relativ fröhlich. Die Prothese saß einwandfrei, sagte der Befund einer neuen Computertomographie. Die Ursache seiner Koliken (krampfartigen Leibschmerzen) war ein wandernder Nierenstein gewesen. Auch diesmal war ich derart angespannt gewesen, dass ich erst Stunden später darüber lachen konnte.
Ähnliche Vorfälle wie diesen gab es in den kommenden Jahren noch öfter. Nicht immer war es ein Nierenstein, aber nie war es die Prothese, die war wirklich ganz prima eingewachsen.
Rein körperlich erholte sich Peter ganz gut. Vier Monate nach der Operation erinnerte nur noch die lange Narbe daran, dass sein Rumpf einmal aufgeschnitten worden war. Aber der Mensch war nicht mehr derselbe. Dieses Aneurysma hatte ihn verändert. Es hatte ihn ängstlich gemacht und ihm das Vertrauen in seinen eigenen Körper genommen.
Der Zustand der eingesetzten Prothese und der gesamten Aorta wurde weiter regelmäßig mit dem Ultraschall kontrolliert. Es zeigten sich nie auffällige Veränderungen.
Peters Arbeit, die ihm ja immer Spaß gemacht hatte, strengte ihn nun sichtbar an. Er begann den Tag nicht mehr, so wie früher, morgens um sechs Uhr, hellwach und voller Tatendrang. Er quälte sich aus dem Bett und kämpfte gegen eine bleierne Müdigkeit. Seit der Operation musste er mehrere stark blutdrucksenkende Medikamente einnehmen. Wenn er bei seinen Fernsehaufzeichnungen, bei denen er inzwischen auch die Regie übernommen hatte, in den Übertragungswagen kletterte, stiegen Blutdruck und Puls dennoch auf einen sehr ungesunden Wert. Bald benötigte er für diese Tage zusätzliche Tabletten.
In dieser Phase wünschte ich mir nichts sehnlicher als ein ganz normales Leben. Ich wollte in einen schlichten Alltag zurückfinden, morgens fröhlich aufstehen, zufrieden zur Arbeit fahren und mit Freude unseren Sohn aufwachsen sehen.
Aber was ist eigentlich ein ganz normales Leben?
Peter war nicht nur ängstlicher geworden, sondern auch noch nachdenklicher. Der geborene Optimist war er noch nie gewesen, aber jetzt überschritt seine sonst von mir so geliebte Tiefgründigkeit eine pathologische Grenze. In immer kürzeren Abständen teilte er mir mit, dass er überzeugt sei, das Rentenalter nicht zu erreichen. Seine Äußerungen, die nichts anderes waren als Ausdruck seiner Ängste, wurden bald unerträglich.
Ich schlug vor, bei diesen Aussichten unsere Rentenzeit dann eben vorzuziehen und zwischen unsere Filmarbeiten einzubauen. Peter war begeistert und hatte gleich schon eine Idee. Er äußerte den Wunsch, an unsere Unternehmungen der jüngeren Vergangenheit anzuknüpfen – an unsere Reisen durch Europa auf der Suche nach einem zweiten Zuhause. Ohne lange zu zögern taten wir genau das. Das heißt, wir bereisten, nun mit Jonas, die Gebiete, die wir nicht schon von Auslandsdreharbeiten oder unseren privaten Exkursionen kannten. Viel blieb da nicht mehr übrig und ein klarer Favorit war schnell gefunden: Irland. Die Insel bietet ein weites raues Land mit einem gesunden Klima, ist von atemberaubend schönen Küsten umgeben, weist eine sehr geringe Bevölkerungsdichte auf und besitzt nicht ein einziges Atomkraftwerk!
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