Dank des rasanten medizinischen Fortschritts kann man heutzutage vielerlei Aneurysmen überleben – und noch einiges mehr.
Mit Medizinern kann man gute und schlechte Erfahrungen machen, furchtbare, aber auch groteske Momente erleben – und darüber schmunzeln – solange man überlebt.
So unglaubwürdig manche Darstellungen auch klingen mögen, die folgende Handlung beruht auf wahren Begebenheiten.
Namen von Ärzten und Kliniken wurden geändert.
Die AORTA ist das zentrale arterielle Blutgefäß im menschlichen Körper. Sie führt von der linken Herzhälfte hinab bis in den Bauch, hat eine Länge von ungefähr vierzig Zentimetern, einen Durchmesser von ungefähr drei Zentimetern und befördert sauerstoffreiches Blut über abzweigende Arterien in verschiedene Körperbereiche.
Ein ANEURYSMA ist die Aussackung eines Blutgefäßes, die krankhafte Erweiterung einer Gefäßwand, meist einer größeren Arterie, die ab einer bestimmten Ausdehnung reißen kann.
Es war Mitte der neunziger Jahre. Ich erinnere mich an den herrlichen Frühlingstag, an dem mein Mann Peter nur schnell zum Einkaufen fahren wollte, während ich begeistert unserem kleinen glucksenden Sohn Jonas zusah, wie er mit seinen acht Monaten gerade gelernt hatte, sich um sich selbst zu drehen.
Meine Freude wurde vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Es war Peter. Er berichtete, ihm sei beim Fahren plötzlich schwarz vor Augen geworden und er habe das Auto eben noch am Straßenrand zum Halten bringen können, bevor er für kurze Zeit das Bewusstsein verlor. Er überlege, ob es nicht vielleicht sinnvoll sei, sich von einem Arzt durchchecken zu lassen. Dem konnte ich nur zustimmen. Praktischerweise parkte er ohnehin gerade vor einer Klinik.
Es dauerte mehrere Stunden, bis er zurück nach Hause kam. Zu essen gab es nichts, dafür eine Diagnose, zu der die Ärzte der Notaufnahme mittels Ultraschall gelangt waren:
Ein infrarenales Bauchaortenaneurysma im Anfangsstadium.
Was um alles in der Welt war das? Peter erklärte, ein Aortenaneurysma sei eine Aussackung der Hauptschlagader. Infrarenal bedeute unterhalb (inferior) des Abgangs der Arteria renalis, oder anders gesagt, unterhalb der Nieren gelegen. Bei ihm handle es sich ursächlich wohl, wie schon bei seinem Vater und seinem Onkel, um eine angeborene Bindegewebsschwäche der Gefäße. Vater und Onkel seien nach langen Leidensphasen schließlich an den Folgen geplatzter Aneurysmen gestorben.
Ich überlegte, ob er das vor unserer Hochzeit schon einmal erwähnt hatte.
Das anfänglich kleine Säckchen an Peters Aorta wuchs stetig. Im Abstand von drei Monaten wurden Größe und Wachstum von unserer Hausärztin unter Zuhilfenahme des Ultraschalls kontrolliert.
Peters psychischer Zustand verlor während dieser Zeit etwas an Stabilität.
Nach einem Jahr der permanenten Unsicherheit, die sich für uns immer mehr zu einer seelischen Tortur entwickelt hatte, erreichte die Aussackung einen operationswürdigen Größendurchmesser von sechs Zentimetern.
Die Chance, dass das Gefäß unter dieser Spannung noch lange durchhielt, lag rein statistisch gesehen zu diesem Zeitpunkt bei etwa fünfzig Prozent, war also relativ unwahrscheinlich.
Das spontane Platzen eines Aneurysmas zieht in der Regel einen schnellen Tod durch inneres Verbluten nach sich. Peter war sich ganz sicher, diesen Moment nicht erleben zu wollen und stimmte einer Operation zu.
Unsere Hausärztin fand einen auf Aneurysma-Operationen spezialisierten Gefäßchirurgen. Der schlug vor, die erkrankte Stelle durch eine acht Zentimeter lange Prothese aus Kunststoff zu ersetzen. Allerdings wies er uns auf ein möglicherweise auftretendes, aber unvorhersehbares Problem bei diesem Eingriff hin, das Vernähen der beiden Prothesenenden. Die erfolgreiche Befestigung hinge entscheidend von der Qualität des Gefäßes zu beiden Seiten des Aneurysmas ab, die vor der Operation nicht beurteilt werden könne. Seien diese Stellen ebenfalls von einer Gewebeschwäche betroffen, würde das ein Fixieren unmöglich machen und die Operation scheitern lassen. Peter äußerte, in diesem Falle ein Sterben unter Narkose vorzuziehen, gab das Lesen der Operationsrisiken auf und unterzeichnete die Aufklärungsbögen.
Nach diesem Gespräch wurde mir abwechselnd heiß und kalt. Auch bevorzuge ich schnelle, klare Stellungnahmen und gebe gern den Satz meines ehemaligen Lehrers zum Besten:
»Man muss lernen, Entscheidungen zu treffen, auch wenn sie falsch sind.«
Aber plötzlich schien mir das äußert heikel zu sein. Peter hatte entschieden, mehr spontan als überlegt, und dafür bewunderte ich ihn. Aber ob er sich über die Dimension im Klaren war und die möglichen Folgen? Ausgerechnet ich, bekannt für meinen intuitiven Aktivismus, zweifelte und war weder vom Abwarten noch vom Operieren überzeugt, zu wenig kannte ich mich mit der Krankheit aus, zu wenig konnte ich die Risiken abschätzen.
Im Grunde genommen mag ich Probleme, weil ich sie gerne löse. Aber diese Sache lag nicht in meiner Hand und machte mir Angst.
03. Liebe auf den ersten Blick
In der Nacht vor der Operation konnte ich keinen Schlaf finden. Ich versuchte, mich zu entspannen, schloss die Augen und erinnerte mich an den Tag, an dem ich Peter kennengelernt hatte.
Es war im Sommer 1985 gewesen. Ich war sechsundzwanzig, von Beruf Maskenbildnerin und eigentlich glücklich. Ich hatte mich nur unlängst entschlossen, den Rest meines Lebens alleine zu verbringen, da es das, was ich mir unter einem Mann vorstellte, auf dieser Welt nicht zu geben schien. Für eine erkrankte Kollegin hatte ich einen Drehtag übernommen und war auf dem Weg zum Büro des Produktionsleiters, um mich vorzustellen. Ich erwartete das laute, geschäftige Treiben, das ich von Produktionsbüros kannte, klopfte kurz an die Tür, öffnete sie – und hatte das Gefühl, in eine andere Welt einzutreten. Es war vollkommen still. Ich stand in einem großen, hohen, halbdunklen Raum, der eine Atmosphäre ausstrahlte, die mich mit Wohlbehagen erfüllte. Rauchschwaden waberten durch die Luft, in denen sich die Sonnenstrahlen brachen, die zu dieser Tageszeit ihren Weg durch das Fenster fanden. Ein massiver dunkler Schreibtisch stand mitten im Raum – und dahinter stand er! Ein großer, kräftiger Mann mit dunkelblonden, halblangen, lockigen Haaren. Der melierte Dreitagebart gab dem weichen Gesicht einen perfekten Rahmen. Zwischen Mittel- und Zeigefinger seiner rechten Hand steckte eine brennende filterlose Zigarette, die Ursache der Rauchschwaden. Ich schätzte ihn auf Mitte dreißig. Er trug eine ausgewaschene Jeans, die seinen wirklich atemberaubenden Körperbau betonte. Ein weißes Hemd war locker in die Hose hineingestopft und fiel leger über den kräftigen Brustkorb.
Er stand nur da und sah mich an. Plötzlich dachte ich an meine Mutter, die mich erst neulich wieder besorgt gefragt hatte, wie denn ein Mann sein sollte, der mir gefallen würde, nachdem ich Männer als eine lästige Anhäufung von Machos bezeichnet hatte. Hier war die Antwort, liebe Mami, so, genau so stellte ich mir einen Mann vor. So sollte er aussehen und so sollte er sein, ruhig und zurückhaltend.
Er stand immer noch nur da und sagte nichts und ich hatte Zeit, sein Gesicht zu betrachten – in dem ich alles fand, was ich mir je gewünscht hatte in einem Gesicht lesen zu können: Wissen, Tiefgründigkeit und Bescheidenheit. Eigentlich sah ich alles in diesem Gesicht, das Leben und die ganze Welt.
Leider hielt ich dieses herrliche Kribbeln in meinem Körper nicht lange aus und quasselte los. Ich stellte mich vor und fragte nach den Maskenräumen. Er stellte sich ebenfalls vor und beschrieb mir den Weg. Er hieß Peter! In diesem Moment war das für mich der schönste Name der Welt. Ich sagte, ich würde nach Drehschluss noch einmal vorbeikommen, ging hinaus und schloss die Tür. Atemlos lehnte ich mich mit dem Rücken an die Wand. Offensichtlich hatte ich vergessen Luft zu holen, während mich diese tiefe, angenehm warme Stimme durchflutete. Die Beschreibung des Weges zum Studio dagegen war nicht bis in mein Gehirn vorgedrungen, ich fragte den nächsten Menschen danach, der mir begegnete. Am Ende des Arbeitstags ging ich wieder zu Peter. Er lächelte mich an, sagte, der Tag sei gut verlaufen, alle wären sehr zufrieden gewesen und ob er mich wieder buchen dürfe. Ich antwortete, wie immer spontan und ohne nachzudenken:
Читать дальше