Die Gespräche zogen sich zäh hin und alle waren froh, wenn das Abendessen endlich vorbei war und sie wieder nach Hause durften. Unsere Familienfeiern waren eher ein schnelles Abfüttern der Gäste und danach konnten meine Eltern einen Haken machen, mit dem Vermerk „geschafft”.
Nach einer Feier hatten wir einmal ein besonderes kulinarisches Missvergnügen. Meine Mutter hatte für Sonntag Kohlrouladen vorbereitet, die bereits am Samstagabend in der Küche standen. Pünktlich stellte sie den Topf auf den Herd und erhitzte das Essen. In der Soße schwimmend sahen die Kohlrouladen noch ganz gut aus, auf dem Teller liegend jedoch etwas faltig. Mein Vater schnitt seine an und ließ sie sich in Gedanken schon auf der Zunge zergehen. Aber, welch ein Schreck? Die Füllungen waren alle weg.
Der Vater meiner Cousine blieb immer im Verdacht, das Kraut geplündert zu haben. Wahrscheinlich war er am kalten Büffet einfach nicht satt geworden.
Gesehen hatte es keiner, und beweisen konnte es niemand. Am meisten ärgerte es meine Eltern, dass sie zu denen nie eingeladen wurden, und sich somit auch nie rächen konnten.
Wenn wir ab und zu mal bei der Verwandtschaft waren, saßen wir meistens mit den Gastgebern gelangweilt rum. Erst als wir endlich gingen, kam der ganze Rest der Familie, um lustig miteinander zu feiern.
Wie ich später erfuhr, konnte niemand meinen Vater ausstehen, deshalb kamen die meisten erst gar nicht.
So lernte ich nur trostlose Familienfeiern kennen.
Aber manchmal, da machte sich jemand über einen anderen lustig, aber das war auch nicht besonders unterhaltsam.
Die unschönen Erlebnisse mit meinen Eltern brachten mich auf die Idee, in unserem Familienstammbuch nach Hinweisen zu suchen, ob ich eventuell adoptiert worden bin. Denn Eltern, die ihr Kind gern haben, verhalten sich nicht so abweisend wie meine.
Lange Zeit dachte ich, mein Name wäre „DUMME” oder „NACHTJACKE mit dem Fichtelhirn”, weil ich, in Verbindung mit einem leichten Schlag auf den Hinterkopf, der das Denkvermögen erhöhen sollte, oft von meinem Vater so genannt wurde. Außerdem nahm ich an, dass ich im Sternzeichen „JAMMERLAPPEN” geboren wurde.
Am liebsten hätte ich mich selbst in ein Kinderheim eingewiesen. Aber man hätte mir sicher nicht geglaubt. Ein Einzelkind und nicht zufrieden. Wie undankbar ist das denn?
Den Vater meines Vaters, also meinen Opa, habe ich zwar gekannt, ich könnte aber nicht gerade behaupten, dass er oft ein Wort an mich gerichtet hat.
Ein Ereignis ist mir jedoch in Erinnerung geblieben.
Ihm gefiel es wahrscheinlich gar nicht, dass ich so ängstlich war. Deshalb wollte er mir sicher nur helfen, als er mir auf seine einfältige Art Mut einflößte, denn: Konfrontation mit der Angst muss ein sicheres Mittel sein, diese zu bekämpfen!!!
Meine Großeltern wohnten in unserem Nachbarort, der nur eine Bahnstation entfernt war.
Ich traute mich im Alter von acht Jahren natürlich noch nicht allein Zug zu fahren, denn die schweren Türen, mit den meist klemmenden Schlössern, bekamen selbst die Erwachsenen kaum auf.
Während einer Familienfeier schnappte Opa mich einfach, schleppte mich ohne Kommentar zum Bahnhof, kaufte eine Fahrkarte und steckte mich in den nächsten Zug Richtung Heimat.
„ Hilfe, Eltern! Wo seid ihr? Ihr sollt doch immer auf mich aufpassen und mich beschützen”, schrie es in mir.
Tausend Ängste stand ich aus.
Während der Fahrt probierte ich vor lauter Panik, ob die Tür aufgeht, damit ich es am Bahnhof schaffe, auszusteigen und nicht bis zur nächsten Stadt mitfahren muss. Denn dort hätte ich nicht gewusst, welcher Zug zurück nach Hause fährt. Außerdem hatte ich keinen Pfennig mitbekommen und hätte keine Fahrkarte für die Rückfahrt kaufen können. Schwarzfahren kam für mich nicht infrage, denn das ist ja verboten.
Viele Jahre hatte ich Albträume von Zugfahrten, die ich auf dieses Erlebnis zurückführe.
Es wäre doch eine kinderfreundlichere und erziehungswirksamere Methode gewesen, einfach mitzufahren und mich allein alles ausprobieren zu lassen, mit den aufmunternden Worten: „Siehst du, so einfach ist das. Und wenn die Tür wirklich mal nicht aufgeht, fragst du einfach einen Erwachsenen.”
Meine Eltern hielten es nie für nötig, mit mir über diesen Vorfall zu sprechen. Vielleicht hatten sie mich gar nicht vermisst und sich abends nur gewundert, weil ich schon zu Hause war.
Ich darf gar nicht daran denken, was hätte alles passieren können. Aber die Zack-Zack-Methode ging ja auch auf. Ich Angsthase bin sogar angekommen. Und die Albträume, die sich bei einem Kind daraufhin einstellen könnten, hat man ja nicht selbst. Hauptsache das Kind wird endlich mutiger und selbstbewusster.
Als ich zwölf Jahre alt war, ist mein Opa dann gestorben. Mein Vater sagte zu mir: „Mach das Radio aus, der Opa ist tot.” Den Zusammenhang habe ich nie verstanden. Es gab keine weitere Anteilnahme, nie Gespräche oder Erinnerungen irgendwelcher Art an diesen Mann.
Tot – weg – das war´s.
Vielleicht hatte mein Vater auch keine guten Erlebnisse mit ihm gehabt, aber auch darüber wurde nie gesprochen.
Meine Oma war nach dem Tod ihres Mannes sehr verzweifelt. Sie hatte nur noch einen Wunsch – sie wollte so schnell wie möglich zu ihm auf den Friedhof.
Aber so einfach ist das ja nicht.
Oma war total hilflos und statt ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben, ließ sie sich einfach fallen und wollte nicht mehr leben.
Meine Eltern hätten sich eigentlich um sie kümmern müssen, denn mein Vater hatte keine Geschwister, auf die er die Verantwortung abwälzen konnte.
Sie fuhren manchmal zu ihr, um zu gucken, ob sie noch lebt. Aber nur hopp – hopp, und weg waren sie wieder.
Für meine Eltern war es schon immer sehr wichtig, so oft und so lange wie möglich in Urlaub zu fahren. Als ich noch klein war, mussten sie mich meistens mitnehmen und konnten nur während der Schulferien fahren.
Um das, was ich erlebt habe, beneideten mich einige Freundinnen. Hätten sie gewusst, wie die schönste Zeit des Jahres für mich abgelaufen ist, hätte sich ihr Neid sicher in Grenzen gehalten.
Früh wurde aufgestanden (spätestens sechs Uhr) und schnell gefrühstückt. Mein Vater wollte ja als erster Urlauber „in der Wand” sein. Wanderungen und Klettereien liefen bis zum späten Nachmittag ohne Diskussionen im Schnelldurchgang ab. Es wurde viel fotografiert, damit wir zu Hause in Ruhe nachsehen konnten, wo wir überall gewesen sind und was wir mit eigenen Augen gesehen hätte, wenn … ja, wenn wir mal eine Pause gemacht hätten.
Niemals wurde ich gefragt, was ich gern unternehmen möchte, denn ich war nur das überflüssige Anhängsel.
„Sei froh, dass wir dich mitgenommen haben, und genieße, was du alles erlebst. Andere Kinder wären dankbar ...”, so die Aussage meines Vaters.
Nach dem Abendessen blieb ich allein im Zimmer zurück, denn sie wollten ja auch irgendwann mal „unter sich” sein, wie sie es nannten. Und außerdem sollte ich zeitig schlafen, um Kräfte zu sammeln, damit der nächste Urlaubstag straff und ohne Pausen abgearbeitet werden konnte.
Einmal begleitete uns ein Ehepaar mit seinen beiden Kindern. Dieser Urlaub war für mich angenehmer, denn ich konnte mit den Kleinen zusammen sein und mit ihnen spielen.
Meine Eltern wurden wieder mal nach Hause gerufen, weil meine Oma krank war.
Sie fuhren allein zurück, und ich wurde in der Zwischenzeit in das Familienleben unserer Bekannten integriert. Als die Frau am Abend nachdenklich zu mir sagte: „Elke, wenn es möglich wäre, würden wir dich adoptieren. Aber leider geht das nicht”, machte mich das erst stolz, später traurig. Ich wusste aber nicht so recht, warum. Zum Glück hatte ich nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, denn meine Eltern waren ganz schnell von dem Abstecher in die Heimat zurück und meine familiäre Ordnung war wieder hergestellt.
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