Eingereiht wurde ich neben einer Sylvia, die ständig den Finger in der Nase hatte. Und damit nicht genug – diese Sylvia wurde auch noch meine Banknachbarin.
Wahrscheinlich habe ich von Anfang an auf die Lehrerin den Eindruck gemacht, mich von allen Kindern am wenigsten gegen dieses unsaubere Mädchen zu wehren.
Nur gut, dass popeln nicht ansteckend ist.
Lernen, lernen, nochmals lernen
Schon am ersten Tag, noch bevor ich mich in Richtung Schule aufmachte, sollte ich lernen, wie wichtig es ist, lesen zu können.
Meine Mutter schickte mich mit den Worten los: „Du holst ein Mädchen aus deiner Klasse ab und gehst mit ihr zusammen zur Schule. Sie wohnt in dem Haus neben dem Konsum, gleich im ersten Eingang.”
Nichts Schlimmes ahnend lief ich los. Das Haus fand ich, den Eingang auch, aber die Haustür war zu. Da half kein Rütteln, es war abgeschlossen. Nun hätte ich ja klingeln können. Aber nur, wenn ich gewusst hätte, welcher der vielen Klingelknöpfe zu ihrer Familie gehört, denn für mich hätten die Namen auch in chinesischen Schriftzeichen auf den Schildern stehen können. Ich habe nichts erkannt. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, irgendwo zu läuten. Dann hätte ich ja fremde Leute gestört, aber so etwas tut man nicht. Die richtige Klingel musste es schon sein.
Also ging ich schnell nach Hause zurück und hoffte, dass meine Mutter da war. Sie war natürlich verärgert, weil ich mich zu blöd anstellte, meine zukünftige Freundin abzuholen und brachte mich persönlich hin, um mir die passende Klingel zu zeigen. Nur gut, dass meine Mutter wenigstens lesen konnte. Erleichtert konnte ich nun endlich mit meiner neuen Freundin Martina in Richtung Schule gehen.
Der Unterricht war abwechslungsreich und machte mir sogar Spaß.
Leider lernten wir immer noch nicht schnell genug lesen, denn es passierte mir umgehend der nächste Patzer.
An einem herrlichen Herbsttag standen wir nach der vierten Stunde alle auf dem Schulhof. Da die fünfte und für diesen Tag letzte Stunde in einem anderen Gebäude sein sollte, hatten wir unsere Sachen dabei. Wahrscheinlich hat die Sonne zu heiß geschienen und mich verwirrt, sodass ich zu der Überzeugung kam, dass der Unterricht für heute bereits abgearbeitet war.
Ich überlegte : „Warum stehen wir hier alle herum? Es ist doch Schluss, und wir können eigentlich gehen” , und fragte Martina: „Kommst du mit nach Hause, oder soll ich alleine gehen?”
Sie sah mich nur komisch an, sagte aber nichts.
Da nahm ich all meinen kindlichen Mut zusammen und lief los. „Wer braucht denn die? Ich werde den Weg schon finden.”
Unterwegs kam mir immerzu der seltsame Blick meiner Freundin in den Sinn, und dann, ein Geistesblitz, wir hätten ja noch eine Stunde Werkunterricht in einem anderen Gebäude gehabt. Oh je! Was nun?
Zurück konnte ich nicht, denn die Stunde hatte schon angefangen und zu spät kommen durfte ich nicht, das wurde mir bereits eingetrichtert. Also blieb mir nichts weiter übrig, als den Heimweg fortzusetzen. Das schlechte Gewissen erdrückte mich fast. Zum Glück hatte meine Mutter den Stundenplan auch nicht im Kopf und merkte nichts.
Nun quälte ich mich den ganzen Nachmittag, den Abend und die Nacht. Am nächsten Morgen hatte ich schreckliche Bauchschmerzen und wollte gar nicht zur Schule. Meine Mutter meinte nur streng: „Entweder Arzt oder Schule!”
Unser Hausarzt war ein ziemlich Angst einflößender Mensch. Er blickte immer so vorwurfsvoll über seine Brille von oben herab. Da hatte ich im Wartezimmer schon Schweißausbrüche und Zitteranfälle und wünschte mir, ganz schnell gesund zu werden.
„ So schlimm ist der Schmerz eigentlich nicht, oder?” , überdachte ich meine Situation . „Dann eben Schule.”
Am ganzen Körper schlotternd ging ich los und holte Martina ab.
Sie begrüßte mich mit den Worten: „Also, du hast dir ja gestern was getraut ...”
Ich konnte nicht zugeben, dass ich zu blöd war, mir den Stundenplan zu merken und dann auch noch zu feige, um schnell mit einer Ausrede auf den Lippen zurückzugehen. Deshalb äußerte ich mich zu diesem Missgeschick nicht.
Kaum hatte die Glocke den Beginn der ersten Stunde verkündet, zitierte mich die Lehrerin nach vorn. Mit vor Wut funkelnden Augen zog sie mich zur Rechenschaft. Diese Maßnahme sollte wohl gleich zur Abschreckung für diejenigen Schüler dienen, die jemals auch nur einen Gedanken an eine Fehlstunde vergeuden sollten.
Ich kam mir vor wie ein Schwerverbrecher, Schulbummler, Versager ...
Dabei war ich doch noch sooo klein.
Mein Gott, hat mir das einen Schreck eingejagt. Wäre ich doch bloß zum Arzt gegangen – schlimmer hätte es dort auch nicht werden können. Zumindest hätte ich mich nicht so sehr blamiert.
Ich musste schwören, so etwas nie wieder zu tun.
Und von meiner Mutter gab es dann auch noch Ärger.
Die Erwachsenen konnten sich wahrscheinlich nicht vorstellen, dass ein Schulanfänger, der gerade mal vier Buchstaben gelernt hatte, eben nicht lesen kann. Und da kann so etwas doch mal passieren, oder?
An einem anderen Tag begann die Lehrerin den Unterricht mit einem Satz, von dem ich nur noch die Worte verstand: „... wollen wir heute fortfahren.”
„ Oh, Schreck. Wohin denn? Davon wusste ich nichts. Davon habe ich ja meiner Mutti nichts gesagt.”
Der nächste Schock in einer Morgenstunde.
Schnell meldete ich mich mutig und fragte, wohin wir den fahren würden.
Alle Mitschüler lachten mich aus und verspotteten mich. Mein Gesicht färbte sich dunkelrot.
„ Nie wieder melde ich mich hier!” , nahm ich mir fest vor.
Gleich zu Beginn der zweiten Klasse bekam ich einen negativen Eintrag, der fein säuberlich von einem Elternteil unterschrieben werden sollte. Meine Mutter tat das auch, natürlich mit einem angemessenen Vortrag und nur gut gemeinten Ermahnungen für meine Zukunft.
Während meiner Kindheit habe ich sie öfter mit einem strengen Gesichtsausdruck und erhobenem Zeigefinger gesehen, als mit einem Lächeln im Gesicht. Sicher wollte sie immer alles richtig machen und nur das Beste für mich. Dass man mit einem Kind auch Freude haben könnte, kam ihr scheinbar nie in den Sinn.
Als ich die Unterschrift am nächsten Morgen der Lehrerin zeigte, stutzte diese und wetterte gleich los: „Wie kommst du dazu, eine Mitteilung von mir, selbst zu unterschreiben?”
Sie schnappte sich mein Kinn, riss meinen Kopf nach oben, damit ich ihr in die Augen gucken musste, (Auge um Auge – Zahn um Zahn) und krallte dabei ihre langen Fingernägel in meinen Hals. Sie ließ sich und mir keine Ruhe mit dem ungeheuren Vorwurf der Unterschriftenfälschung. Wie sollte ich sie aber überzeugen, dass meine Mutter ihren Namenszug höchstpersönlich auf das Papier gesetzt hatte?
Schuldbewusst ging ich nach Hause und berichtete, was mir vorgeworfen wurde. Meine Mutter musste dann eidesstattlich erklären, dass dieser Krakel wirklich von ihr stammte, um dann noch einmal den gleichen unter die Bestätigung zu setzen.
Die Lehrerin meinte nur: „Da hast du aber Glück gehabt.”
„ Wieso eigentlich?” , grübelte ich darüber nach.
Eine angebrachte Entschuldigung für die falsche Verdächtigung habe ich nie zu hören bekommen. Das wäre doch eine gute Möglichkeit gewesen, einem kleinen Kind beizubringen, dass man sich entschuldigt, wenn man einen Fehler gemacht hat. Aber leider ...
Die ersten vier Schuljahre waren bis auf einige kleinere Zwischenfälle recht schön. Was es zu lernen gab, war leicht zu verstehen. Hausaufgaben machte ich im Handumdrehen. Ich erhielt viele Lobe von den Lehrern, gute Zensuren und dementsprechende Zeugnisse.
Nur meinen Eltern reichte es nie. Ich könnte ja immer noch besser sein, wenn ich mich mehr anstrengen würde, meinten sie.
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