Hätte mir doch jemand mal gesagt, dass Lernen auch Spaß machen sollte und ich nicht ständig alles abrufbereit im Gedächtnis parat haben muss, dann hätte ich die Sache vielleicht etwas leichter gesehen.
Aber so ging ich fast täglich mit der Angst zur Schule, irgendetwas nicht zu wissen oder vergessen zu haben, schlechte Zensuren zu bekommen und somit Ärger.
In den Ferien bekam ich von meiner Mutter Übungsaufgaben, und wenn ich die abgearbeitet hatte, lag der nächste Zettel mit Anweisungen, was alles im Haushalt erledigt werden musste, bereit.
Sie muss sich wohl gedacht haben: „Nur keine Langeweile beim Kind aufkommen lassen, sonst kommt es nur auf dumme Gedanken und macht Schaden.”
Bis meine Mutter von der Arbeit nach Hause kam, hatte ich Zeit das Pensum abzuarbeiten – Ausreden waren sinnlos, denn lesen konnte ich ja in der Zwischenzeit. Auf den erhobenen Zeigefinger und Vorträge, dass aus mir nichts werden kann, wenn ich faul bin, hatte ich keine Lust. Also ging ich frisch ans Werk und tat alles der Reihe nach, was mir aufgetragen wurde.
Außerdem wollte ich, dass Mutti zufrieden ist und damit endlich auch mal stolz auf mich sein kann. Meine Anstrengungen wurden jedoch nie mit Lob honoriert … leider.
Einmal durfte ich in den Ferien eine Woche bei meiner Großcousine Christin in Leipzig verbringen. Sie ist so alt wie ich und hatte das Vergnügen gehabt, vor mir auf dem OP-Tisch zur Ohrenkorrektur zu liegen. Ihr hatte das alles nicht so viel ausgemacht, denn sie war ein aufgewecktes Kind.
Ihre Mutter hatte ein großes Problem mit ihr – Christin wollte einfach nicht essen. Das konnte ich nicht verstehen. Auf die leckeren Reste, die ständig auf ihrem Teller liegen blieben, war ich neidisch. Um ihre Mutter zu unterstützen, kam ich auf die Idee, ein Wettessen mit Nudeln zu veranstalten. Selbst da bekam sie nicht mehr in sich hinein. Ich habe gewonnen, denn jahrelange Übung im Vollstopfen lag schon hinter mir.
In dieser Familie wurde mir eine völlig unbekannte Art des Eltern-Kind-Verhältnisses gezeigt.
Früh, Christins Eltern schliefen noch, schlich sie sich zum Schlafzimmer, riss die Tür auf und sprang laut schreiend ins Ehebett.
Mir blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Ich bekam Angst, sie würden denken, dass ich mir das ausgedacht und Christin zu dieser Frechheit angestiftet habe. Zu meiner großen Erleichterung hörte ich aber nur Gelächter und sah in glückliche Gesichter. Alle freuten sich. Christin wurde durchgekitzelt und jauchzte vor Vergnügen. Ich stand in meinem Nachthemd ratlos im Flur, beobachtete das Geschehen und dachte: „Hoffentlich muss ich nicht mit in das Bett.” Das blieb mir aber erspart.
Zu Hause wäre ich nie auf die Idee gekommen, in das Schlafzimmer meiner Eltern zu gehen oder einfach mit unter deren Decke zu krabbeln. Ich hatte die strikte Anweisung, mich immer leise zu verhalten, bis sie ausgeschlafen haben.
Christin wurde ständig gestreichelt, gedrückt und oft gelobt. Sie selbst schmiegte sich immerzu an ihre Eltern, kletterte auf deren Schoß und schmuste sogar von sich aus mit ihnen. Das war mir unheimlich.
Als ich meiner Mutter von dem seltsamen Verhalten unserer Verwandten berichtete, meinte sie nur abwinkend: „Zwischen denen ist eine Affenliebe. Die sind nicht normal!!!”
„ Bloß gut, dass wir wenigstens normal sind” , dachte ich beruhigt.
Bereits im Alter von neun Jahren hatte ich die Möglichkeit, in den Ferien mit in ein Kinderferienlager zu fahren. Drei Wochen mit anderen Kindern an der Ostsee verbringen zu können – da war ich begeistert.
Als meine Mutter mit mir auf dem Bahnhof ankam, stand der Zug schon bereit. Schnell stieg ich ein und suchte mir einen Fensterplatz. Gabriele saß mir gegenüber und heulte wie ein Schlosshund. Ich machte mir Sorgen und tröstete sie, dass es sicher schön und gar nicht so schlimm werden würde. Jahre später sollte ich erfahren, dass sich ihr sonderbares Verhalten Abschiedsschmerz und Heimweh nennt.
Fast alle Kinder winkten ihren Eltern.
Meine Mutter erzählte meiner Oma: „Elke hat sich weder nach mir umgedreht, noch hat sie gewunken.”
Sicher war Mutti in diesem Moment sehr stolz auf mich, weil ich schon so unabhängig war.
In meinem Hintern schienen sich Hummeln zu befinden, denn ich rutschte auf dem Sitz hin und her und konnte die Abfahrt kaum erwarten.
Am späten Nachmittag kamen wir in dem Ferienlager, das höchstens fünfzig Meter vom Ostseestrand entfernt war, an. Jeder Bungalow hatte zwei Zimmer, die mit jeweils fünf Doppelstockbetten und fünf sehr schmalen Schränken ausgestattet waren. Klein – aber auch mein. Wir brauchten nicht viel Platz, denn bei schönem Wetter waren wir sowieso draußen, und nachts hatten wir die Augen zu.
Abends war lange keine Ruhe. Das gefiel mir. Endlich Stimmung statt Alleinsein in der Kinderstube.
Jeden Tag wurde mit uns etwas Tolles unternommen, vom ausgiebigen Baden in der Ostsee über Sandburgen bauen am Strand bis hin zu Theateraufführungen, Nacht- und Strandwanderungen und als Höhepunkt gab es das lustige Neptunfest ... An diesem nahm ich nur beim ersten Mal begeistert und freiwillig teil. In den nächsten Jahren, nachdem mir der Ablauf eines solchen Festes bekannt war, versuchte ich mich zu drücken. Die Toiletten waren als Versteck das beliebteste Ziel und deshalb wegen Überfüllung geschlossen. Leider waren das Trockenklos, in die (aus Hygienegründen) reichlich weißes Pulver gestreut wurde. Das brannte vielleicht in der Nase und ließ die Augen tränen. Lange hat man es in dieser Räumlichkeit nicht ausgehalten. Überhaupt versuchte jeder, die Toilettenbesuche auf das Nötigste zu beschränken und sehr schnell hinter sich zu bringen. Vor dem Eingang pumpte man so viel wie möglich frische Luft in die Lunge, machte schon mal die Hose auf, beeilte sich bei der Verrichtung, atmete dabei ganz langsam und stoßweise aus, verließ das Häuschen im Galopp, um draußen wieder tief einzuatmen. Wer da an Verstopfung litt, hatte schlechte Karten.
Schöner war es im Waschraum. Alle Kinder standen in einer Reihe an einer Waschrinne, die eher einem langen Futtertrog glich. Wasser kam nur kalt aus der Leitung, angeblich zu unserer Abhärtung, aber das störte niemanden, denn wir waren noch jung. Auch hatte der Waschraum mehr Ähnlichkeit mit einer kleinen Scheune. Unter dem Dach nisteten Schwalben. Wir hatten die Gelegenheit, Schwalbenpaare beim Bau ihrer Nester, bei der Brutpflege und die Jungvögel bei ihren ersten Flugversuchen zu beobachten. Das war sehr lehrreich und wirklich schön.
Viel Spaß bereitete es uns, die Jungs zu ärgern. Da ging manchmal die Fantasie mit uns durch. Einmal legten wir einen Harzer-Roller (nicht den Kanarienvogel – sondern den Stinkerkäse) in die Deckenlampe im Jungenzimmer und wetteten, wie viele Abende es wohl dauern würde, bis die Jungs endlich etwas zu schnüffeln bekamen. Es stank nicht nur entsetzlich, der an der heißen Glühbirne zerlaufene Käse tropfte dann auch noch auf den Fußboden.
Ein anderes Mal schickten wir ein Mädchen in das Zimmer ihres Bruders. Das fiel nicht so auf, denn sie hätte ja wirklich einen wichtigen Grund haben können, sich dort aufzuhalten. Sie hatte aber nur unseren Auftrag, in einem unbeobachteten Moment so viele Schlafanzüge wie möglich einzusammeln.
Kaum war sie mit ihrer Beute zurück, machten wir uns ans Werk. Alle Ärmel und Hosenbeine wurden ganz dicht und fein säuberlich zugenäht. Wir hatten zu tun wie fleißige Bienchen. Die Handarbeitslehrerin wäre sehr stolz auf uns gewesen.
Am späten Nachmittag brachte besagte Schwester alles wieder zurück.
Gab das am Abend ein Gejohle. Die armen Jungs lernten so das erste Mal in ihrem Leben, sich richtig zum Trottel zu machen, weil sie die Nähte wieder auftrotteln mussten.
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