Er sah irritiert drein. Sie wollte sich schon entschuldigen, weil sie ihn Romeo genannt hatte, aber dann sammelte er sich und las sich die Fragen durch.
Luisa kratzte sich am Kopf. Wie schaffte sie es nur immer wieder, in Sams Gegenwart die Kontrolle über ihr Mundwerk zu verlieren?
Nachdem sie auch ihre Französisch-Hausaufgaben bezwungen hatten, was Luisa himmelhoch jauchzend stimmte, machte Sam sich auf.
Im Flur nahm er seinen Helm und griff nach der Haustürklinke.
„Bis morgen dann“, sagte er schnell und öffnete das Tor zur Freiheit. Offensichtlich konnte er es kaum erwarten von ihr wegzukommen.
„Warte“, rief Luisa. Der Anblick seines Motorradhelmes hatte sie auf eine Idee gebracht. „Kannst du mich vielleicht mitnehmen?“
„Ich hab leider keinen zweiten Helm bei.“
Luisa überlegte kurz. „Ich habe noch einen Fahrradhelm.“ Sie sah ihn hoffnungsvoll an.
Sam schüttelte den Kopf. „Das ist verboten.“
„Ach, uns erwischt schon keiner.“
„Lieber nicht.“
„Bitte. Du könntest mich zu meinem Pferd fahren. Sonst schaffe ich es nicht mehr, bevor meine Mutter nach Hause kommt.“
„Ich weiß nicht.“
„Bitte, ich muss Ophelia dringend sehen. Meinem Pferd geht es nicht gut zurzeit.“
„Dein Pferd heißt Ophelia?“, hakte er nach.
„Ja.“
„ Hamlet sagt dir nichts, oder?“
Luisa fühlte sich ertappt. „Nein“, gab sie zerknirscht zu und nahm sich vor, es nachzugucken, wenn sie nach Hause käme.
Sam atmete tief durch. „Dann hol mal deinen Fahrradhelm.“
Ungläubig betrachtete Luisa das Spektakel, das sich ihr bot. Nachdem Sam sie am Gestüt abgesetzt hatte und wieder gefahren war, hatte sie Ophelia nicht in ihrer Box vorgefunden. Luisa war zum Springplatz geschlichen, wo sie ihr Pferd vermutete. Sie blieb im Schatten eines Baumes stehen, um unentdeckt den Beritt beobachten zu können. Doch jetzt wünschte sie sich, sie hätte es nicht getan. Denn als sie Ophelia nun erblickte, hielt sie erschrocken die Luft an und die Hoffnung, dass die Angestellte des Gestüts ähnlich talentiert und einfühlsam wie Jonathan ritt, zerschlug sich. Sie erkannte, dass die Frau mit Schlaufzügeln arbeitete. Ophelia galoppierte mit unruhig schlagendem Schweif auf einem verkleinerten Zirkel. Die Bereiterin zog den Kopf des Pferdes mit Hilfe der Schlaufzügel so tief, dass die Fuchsstute sich fast in die Brust biss. Als wäre das noch nicht schlimm genug, zischte immer wieder die Gerte auf die verschwitzte Kruppe ihres Pferdes.
Luisa wandte sich fassungslos ab und rannte auf das Haupthaus zu. Es war ihr in diesem Moment vollkommen egal, ob sie sich vielleicht Ärger mit ihrer Mutter einhandelte. Sie würde jetzt diesen Friedrich Lichthang zur Rede stellen. Und sein scheinheiliger Sohn konnte sich auch auf etwas gefasst machen!
Sie hastete die Treppe hinauf, schob die massive Holztür auf und blieb in der lichtdurchfluteten Eingangshalle stehen, um sich kurz zu orientieren.
Durch eine nur angelehnte Tür rechts neben ihr drang eine erregte Stimme: „Was glaubst du eigentlich, warum wir die Frühjahrsauktion veranstalten? Zum Vergnügen?“ Die tiefe Stimme von Friedrich Lichthang wurde immer lauter. „Die Umsätze müssen einfach besser werden. Und du sorgst ja nicht gerade erfolgreich dafür, dass die Anfragen für den Deckhengst steigen.“
Luisa trat auf die Tür zu, neben der ein Pferdegemälde an der hellgelb gestrichen Wand mit reichlich weißem Stuck hing.
„Ist doch nicht meine Schuld, dass Alcantarro auf Hallenturnieren nicht so springt wie Zuhause.“
„Nicht deine Schuld? Dass ich nicht lache! Du bist dir anscheinend gar nicht bewusst darüber, dass du Zuhause viel einfühlsamer reitest als auf Turnieren. Dein Ehrgeiz vor Publikum überfordert das junge Pferd.“
„Du musst dich auch mal entscheiden, was du willst. Sportlicher Erfolg oder …“
Herr Lichthang fiel Jonathan ins Wort und kam jetzt richtig in Fahrt: „Ich will, dass du Verantwortung übernimmst. Du bist schließlich das Aushängeschild für unser Gestüt.“
Luisa verzog betroffen das Gesicht, anscheinend war sie nicht die einzige, die Probleme mit ihren Eltern hatte.
Da hörte sie auch schon Jonathans empörte Stimme: „Du kannst froh sein, dass ich mich komplett für das Gestüt aufopfere und mich als Aushängeschild hergebe. Schwing dich doch mal selbst wieder in den Sattel. Du verkriechst dich aber lieber hinter deinem Schreibtisch. Außerdem, die letzten drei Bereiter, die du angestellt hast, sind total unfähig. Erst gestern hat sich die Tochter von Frau Frost beschwert, weil sie ihr Pferd verängstigt vorgefunden …“ Als es gerade richtig interessant wurde, öffnete sich schwungvoll die Eingangstür.
Erschrocken fuhr Luisa herum. Herrn Lichthangs Frau kam über das glänzende Parkett auf sie zu stolziert. „Hat man dir nicht beigebracht, dass es unhöflich ist, an fremden Türen zu lauschen?“, bemerkte die rothaarige Frau abfällig.
„Ich habe nicht …“, stammelte Luisa und brach ab. Es war zu offensichtlich. Sie machte einen Schritt zurück, weil die Rothaarige ihr immer näher kam und prallte plötzlich gegen jemanden: Jonathan, der gerade aus dem Zimmer gestürmt kam.
„Hoppla“, sagte er, fasste sie an den Schultern und drehte sie zu sich um.
Luisa blickte erstaunt zu ihm auf. Seine goldblonden Augenbrauen waren tief zusammengezogen und sein hübscher Mund missmutig verkniffen. Doch er besann sich auf seine guten Manieren. „Luisa Frost, darf ich vorstellen: Meine Stiefmutter Susanne Lichthang. Suzi, das ist Luisa Frost. Ihre Mutter hat am Sonntag ihr Pferd zu uns gebracht.“
Seine Stiefmutter beachtete ihn kaum und rauschte in die Bibliothek zu ihrem Mann.
Jonathan holte tief Luft. „Ich hoffe, du willst dich nicht schon wieder beschweren. Momentan steht es mir bis hier!“ Er hielt seine Hand über seinen blonden Kopf.
Luisa zog Jonathan mit sich aus dem Haus. „Tut mir leid, wenn es dich nervt. Aber ich werde die Rollkurmethoden von dieser Bereiterin nicht akzeptieren! Entweder sprichst du jetzt mit ihr, oder ich hole sie selbst von meinem Pferd.“
Jonathan schien zu erkennen, dass sie es wirklich ernst meinte, denn er protestierte nicht, als sie ihn Richtung Springplatz zog. Dort beobachtete er kurz mit verschlossener Miene das Training. Dann schwang sich Lichthang junior behände über die Umzäunung und winkte der Bereiterin zu. Als diese ihn erkannte, ließ sie die Schlaufzügel sofort länger.
Jonathan drehte sich kurz zu Luisa um und lächelte gezwungen. „Das ist eigentlich nicht unser Stil. Ich werde es natürlich klären.“
Er ging auf Pferd und Reiter zu, die im Schritt auf ihn zuhielten. Jonathan sprach leise und diskret mit der Bereiterin, aber Luisa konnte ihn verstehen: „Gina, ich denke, mein Vater hat sich recht deutlich ausgedrückt. Schlaufzügel und Rollkur wollen wir bei uns nicht sehen. Du erzielst damit beim Pferd keinen Erfolg, stattdessen laufen uns die Kunden weg.“
Die junge Frau wirkte nicht überzeugt, als sie entgegnete: „Aber anders kriege ich sie nicht geritten. Immer wenn ich …“
Jonathan fiel ihr streng ins Wort: „Morgen reite ich die Stute selbst, um mir ein Bild zu machen. Jetzt kannst du absteigen. Die Besitzerin bringt Ophelia selbst in den Stall.“
Gina sprang vom Pferd ab und schaute missmutig zu Luisa herüber. Luisa zuckte nur mit den Schultern. Es war ja nicht ihr Problem, wenn Gina sich nicht an die Absprachen hielt. Die Bereiterin verließ den Springplatz mit verkniffener Miene.
Jonathan kam zu ihr herüber. Er lockerte Ophelias Sattelgurt und blickte Luisa durchdringend an: „Ich dachte gestern, du übertreibst. Aber Ginas Methode entspricht überhaupt nicht unseren Vorgaben. Es wird nicht mehr vorkommen. Momentan sind wir nur alle sehr im Stress, da bald unsere Frühjahrsauktion stattfindet. Morgen werde ich Ophelia aber auf jeden Fall höchstpersönlich reiten.“ Er zwinkerte ihr zu.
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