Mit diesem gefürchteten Faktor wurde ein unseliges Zeichen gesetzt, das von Johnny und mir im Nachhinein komisch verzerrt und vereinfacht dargestellt wurde. Der Vater schlüpfte in sein Nachthemd und wir mussten mit ihm Löffelchen liegen. Dazu nahm er uns in den Schwitzkasten. Er zog uns fest zu sich. Wir hatten also keine Chance, zu entkommen, wenn er eingeschlafen war. Oft versuchte ich mich zu entwinden, um seinem heißen, erstickenden Atmen entkommen zu können. Doch er merkte sofort meinen Fluchtversuch und verstärkte den Druck seiner Arme, die er wie Schraubstöcke vor meiner Brust zusammendrehte. Er grunzte zufrieden, unsere List durchschaut zu haben und rühmte sich, seit dem Krieg eine Überwachsamkeit entwickelt zu haben, die bis tief in den Schlaf reichte. So konnte er Veränderungen in seiner Umgebung wahrnehmen und entsprechend reagieren. Bevor er einschlief, krabbelte er mit seinen Fingern geistlos unter unserem Kopfkissen und meinte, wir sollten auf die Polstergeister achten. So wähnte er uns beschäftigt und konnte getrost ruhen. Wir aber lagen wach und spürten das quälende Verstreichen der Minuten. Er schnarchte laut in das ihm zugewandte Ohr und selbst wenn mir die Gliedmaßen längst eingeschlafen waren, gab es kein Entkommen. Oft machte ich ihn scherzhaft auf seinen nach Schwefel riechenden Atem aufmerksam und bagatellisierte meine Verzweiflung, auf sein Erwachen warten zu müssen. Er entgegnete ebenfalls blödelnd, er sei eben der Teufel und am Wochenende sei die diabolische Ruhe durch seine Kontrolle über uns sichergestellt.
Meine Mutter las während dieser Zeit im Esszimmer auf dem Sofa. Sehnsüchtig horchten wir auf Küchengeräusche, die ein Ende der Tortur ankündigen sollten. Entschloss sich meine Mutter endlich, das Geschirr abzuwaschen und die Jause vorzubereiten, erwachte der grausige Moloch hinter mir aus seiner Betäubung. Ich hasste meinen Vater für seine Gefühllosigkeit. Was hätte ich alles in dieser Zeit tun können! Ich wäre sicher nicht ein Kind gewesen, das schreiend durch die Wohnung hüpfte, bis die Möbel wackelten und der Lüster bedrohlich schwankte. Ich hätte mich auf meinem Bett zusammengekauert und in meinen geliebten Büchern geschmökert. So aber war ich in den Fängen eines Riesenkraken von der Umwelt abgeschnitten. Ich war zur Untätigkeit verbannt. Die winzigste Bestrebung, mich in eine bequemere Lage zu bringen, unterband er mit einer Sperre. Wie Riemen aus Lianen zurrten sich seine Arme nur noch fester, um mich in der Bewegung zu hemmen. Ich lag versteinert mit tauben Gliedmaßen da. Selbst meine Gedanken waren nicht frei durch die qualvolle Haltung, in der ich reglos lag. Meine Mutter half mir nicht, sie sanktionierte die Misshandlung und verzweifelte Gedanken blitzten wirr durch mein Gehirn.
Warum wurde ich dermaßen grausig bestraft? Was veranlasste meinen Vater, mich mit eiserner Umklammerung festzuhalten? Welchen Vorteil hatte er von meiner Nähe? Es musste doch unbequem sein, so zu schlafen.
Meine Eltern duldeten generell keine Widerrede. Man konnte ihnen eigene Wünsche und Darstellungen nicht auseinander setzen. Sie drückten um jeden Preis ihren Willen durch, denn ihre Vorstellungen waren richtig und wichtig, da sie erwachsen waren. Ein solches Argument kam mir schon als Kind dürftig vor. In diesem Punkt war ich schon damals mit meinem Bruder einig. Wir hatten grauenvolle Angst vor diesen Samstagen und Sonntagen, an denen das Beiliegen mit dem Teufel stattfand. Ich fühlte mit meinem Bruder. Wir waren die Sklaven der Arena und bangten um unser Schicksal! Schon beim Mittagessen rätselten wir im Geheimen, auf wen die unselige Wahl fallen würde. Als der Leidensdruck zu gewaltig wurde, begann mein Bruder gleich zu Beginn des Übergriffes zu weinen. So konnte mein Vater nicht einschlafen und wurde ungehalten. Ich musste an die Stelle meines Bruders treten. Weil ich aber immer brav stillhielt, wurde ich in der Folge bald aus Vaters Diensten entlassen. Mein Bruder wurde trotz seiner Wehklagen in den Schwitzkasten genommen. Offensichtlich bereitete ihm meine Fügung ins Unvermeidliche, nur anfänglich Vergnügen. Daher ließ er allmählich von mir ab, oder drehte sich um und begann zu schnarchen. Oft verlor er nach einer Stunde das Interesse an mir und sein Griff lockerte sich, sodass ich mich einigermaßen gemütlich betten konnte. Die Gegenwehr des Bruders verschaffte ihm sadistische Kurzweil. Mein Vater schmückte seine Umklammerung mit Aussprüchen wie: »Da hilft kein Zittern und kein Zagen!« oder: »So, Johnny, Mund zu, Augen zu, jetzt wird geschlafen!«
Durch diese winzige Abänderung seines Planes wurde mir deutlich, wie richtig es war, in dieser Vergewaltigung eine Strafe zu sehen. Verhielt ich mich leise und tat, als würde ich auch schlafen, wachte mein Vater entspannt auf und Kakao und Kuchen wurde serviert. Nur durch einen nervlich derangierten Bruder zeigte er sich verstimmt und ließ sich zu beißenden Bemerkungen herab. Mein Bruder tat mir zwar unendlich leid, doch konstatierte ich bei mir jedes Mal eine Genugtuung und Schadenfreude, wenn die Reihe auf ihn fiel. Vaters Freude an Grausamkeit hatte mich bereits infiziert. Nun konnte ich mich tatsächlich dem Lesen widmen und in eine Welt, die logisch und nach streng wissenschaftlichen Prinzipien aufgebaut war, fliehen. Was sich in meiner Familie ereignete, entzog sich jeglicher Vernunft. Ich verschloss mich gegen die Tränen meines Bruders und ignorierte sein herzerweichendes Schluchzen. Später begriff ich, dass es noch eine Möglichkeit gab, meinem Elend zu entgehen. Ich leistete Frondienst in der Küche und entkam der schauerlichen Prozedur. Ich bot mich an, sofort nach dem Mahl das Geschirr zu spülen, solange die Essensreste noch nicht eingetrocknet waren. Mein Vorschlag wurde nicht nur mit Begeisterung aufgenommen, sondern mit einem Geldschein belohnt. Ich war heilfroh, meinem Peiniger entwischt zu sein. Die einzige Bedingung, die mir auferlegt wurde, bestand darin, mucksmäuschenstill zu arbeiten. Trieb es mein Vater zu weit, griff meine Mutter zwar halbherzig ein, doch ohne rechten Erfolg. Sie ermahnte ihren Mann, den Sohn doch endlich in Ruhe zu lassen, doch das Drama wiederholte sich mit bedrohlicher Regelmäßigkeit und ich konnte mich gar nicht recht entsinnen, wann es endlich endete.
Der Vater liebte uns eben und brauchte die körperliche Nähe zu uns Kindern. Er wollte das, was ihm Spaß machte. Wir waren da, um ihm seine Wünsche zu erfüllen. Wir waren lebende Spielzeuge, die zumindest den Nutzen der Bedürfnisbefriedigung erfüllen sollten. Jeder Mensch trägt andere Begierden mit sich herum. Wer weiß, wie die Wochenenden verlaufen wären, wenn mein Bruder und ich Mädchen gewesen wären. Oder waren wir so etwas wie Mädchen, im Schlaf – bei geschlossenen Augen?
Wäre nur mein Vater der einzige Unhold in der Familie gewesen, hätten wir versucht, bei der Mutter Zuflucht zu nehmen. Doch meine Mutter hatte eine zweite, unberechenbare Persönlichkeit, von der sie nichts wusste. Auf sie war also kein Verlass. Während mein Vater durch seine Gleichförmigkeit berechenbar in seinem Verhalten war, zeichnete sich meine Mutter durch Jähzorn und bedenkliche Stimmungsschwankungen aus. Es konnte leicht geschehen, dass sie sich beim gemütlichen Mittagessen am Wochenende durch eine achtlose Bemerkung beleidigt fühlte. Manchmal rutschte meinem Vater eine unpassende Entgegnung beim Scherzen heraus und sie nahm plötzlich eine steife Körperhaltung ein, wobei sie mit den Augen starr geradeaus schaute, oder wild funkelte. Sie antworte dann so lange mit unsinnigen, haltlosen Einwänden auf die Besänftigungsversuche meines Vaters, bis ein Streit vom Zaun gebrochen war. Ihre aufwallenden Gefühle konnten schnell eskalieren. Besonders wenn sie schon einige Gläschen Wein getrunken hatte, schlug sie mit der Faust auf den Tisch und stampfte mit den Füßen auf, was meinen Vater, der beim Mahl die absolute Stille schätzte, völlig entnervt aus dem Konzept brachte. Er warf ihr dann vor, vulgär zu sein, worauf ihr Zorn ins Unermessliche wuchs. Sie beschimpfte ihn dann als Schwächling und hielt ihm vor, was andere Männer für ihre Frauen tun würden. Wenn sie ihn mit ordinären Affronts belegte, konnte er glücklicherweise recht behalten. Er hatte sie solange gereizt, bis sie sich zu ihren Flüchen hinreißen ließ. Dann kreidete er ihr erneut ihre Primitivität an, was ihre Gegenwehr noch einmal anstachelte. An dem Punkt begann er, sie zu beruhigen. Aber die Schadenfreude in seiner Stimme war nicht zu überhören.
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