Meine Mutter meinte, er brach das Herz seiner Eltern, als er vergnügt in die aussichtslosen Gefechte des zweiten Weltkrieges zog. Er leugnete diesen Zusammenhang, oder schwächte ihn ab. Vielleicht meinte er es ehrlich und hatte wirklich nicht die blasseste Ahnung, wie seine Entscheidung zu Hause aufgenommen wurde. Er wollte hinaus in die Welt und da er so geborgen und umsorgt war, kam ihm die Gelegenheit recht, auf diese Weise einen Ausbruchversuch zu wagen. Sein Wunsch der Enge seines begrenzten Aktionsradius den Rücken zu kehren, ohne zum aufmüpfigen Sohn zu mutieren, war völlig legal und dem ungeachtet staatlich sanktioniert. Dieser Entschluss würde einem gesetzestreuen Rechtsanwalt, seinem Vater, schon einleuchten. Er nannte ihn in seinen überbordenden Erzählungen einen eingeschworenen Pazifisten, der sich zu allerlei heiklem Diskurs mit anders denkenden Menschen hinreißen ließ. Die Überzeugung seines Vaters hatte praktische Vorteile. Er getraute sich seinen Standpunkt auch in der Öffentlichkeit zu propagieren, eine Qualifikation, die ja den meisten Familienangehörigen eigen war, nur meinem Vater fehlte. Er fürchtete stets die irreversiblen Schäden eines konsequenten Verhaltens und versuchte sich auf diplomatischem Gebiet. Vaters Erzählungen umschrieben elegant die stille, aber chancenlose Renitenz gegen seine Eltern. Immer wieder betonte er, dass ihm ein unüberlegtes, eigenständiges Handeln Verkrüppelung, oder sogar den Tod einbringen können hätte.
Es musste schon etwas Besonderes sein, einen so einflussreichen Vater zu haben, der seinen Sohn vor dem Einrücken bewahren konnte. Er aber schwärmte vom Kriegshandwerk und berichtete von den militärischen und zivilen Vorzügen, die ein Offizier im Krieg nutzen konnte. Dank der Uniform hatte er sich allerorts Respekt verschafft und persönliche Gewinne verzeichnet. Mir imponierte mehr der Charakter seines Vaters. Ich lauschte den Geschichten über ihn mit gespitzten Ohren und war gleichzeitig zutiefst deprimiert, dass mein Vater den Krieg verherrlichte. Er sagte keineswegs, dass die Staatsmänner, die einen Krieg angezettelt hatten, Vorbildfunktion hätten, aber er sah im Krieg eine Art kostenlose Bildung und Selbstverwirklichung. Nie hatte ich ihn nur einmal von dem Gräuel des Schlachtfelds reden hören. Über die Scharmützel erzählte er immer nur in lustigen Anekdoten. Er hätte einen Angriff verschlafen und erwachte erst, als die Meisten seiner Kollegen schon gefallen waren. Er fotografierte die Toten für sein Album. Wenn er guter Dinge war, zeigte er uns die grässlich verunstalteten Leiber, als handelte es sich um nette Urlaubserinnerungen, die man immer wieder gerne durchblätterte.
Halb verweste Soldaten lagen grinsend mit freigelegten Zähnen, um die bereits die Lippen fehlten, im Sand. Bei einigen dieser schwarz-weißen Bilder stand er in Positur mit nacktem Oberkörper und wildem Haupthaar neben einem Gefallenen, lachend auf eine Granate gestützt, als wolle er sagen: »Seht her, ich lebe noch, ich bin ein bisschen klüger gewesen!«
Zu oft berichtete er vom Krieg und den vielen Städten, die er gesehen hatte. Dazu kam noch, dass er sich brüstete, in jeder nur erdenklichen Gegend eine Freundin gehabt zu haben, bei der er jederzeit Unterschlupf gewährt bekam. Sie waren alle perfekt gebaut und drängten ihn, für immer zu bleiben. Er aber zog einfach zur Nächsten weiter. Meine Mutter lachte nur gemein über seine feilgebotenen, pikanten Ausführungen. Sie rächte sich an ihm, indem sie ihn als dekadenten Schwerenöter bezeichnete, der als Strafe für seine Energieverschwendung bereits frühzeitig seine Virilität eingebüßt hatte.
Niemals hatte ich den Eindruck, dass ihr weder seine distinguiert vorgetragenen Angebereien etwas anhaben konnten, noch grämte sie sich über seine sexistisch vorgetragenen Erlebnisse, die auf dem gleichen Niveau seiner Husarenstücke zu finden waren. Vielleicht hielt sie seine leichtfertigen Bekenntnisse ohnehin für Erdichtungen. Er war Beamter der Landesregierung und jeder sollte wissen, wie leicht ihm seine Dienstzeit von der Hand ging. So sonnte er sich unaufgefordert vor jungen Verkäuferinnen in den Innenstadtgeschäften im Licht seiner Erzählungen. Für ihn würde das Wochenende am Mittwoch beginnen, sagte er, oder dass er gerade die Zeit zwischen dem zweiten Frühstück und dem Mittagessen mit einem Einkaufsbummel in der Kärntnerstrasse füllte. Er war in den Läden unseres Bezirks gerne gesehen, da ihm immer absurdere Kuriosa über sein Beamtenleben einfielen, die in die Nähe der Geschichten eines Herzmanovsky Orlandos rückten. Gerne gab er die Episode von den schamlosen Flirts mit seinen zwei Sekretärinnen preis. Anschaulich erzählte er, dass er sie zwischen den Oberschenkeln fasste, um sie sodann mit sicherem Griff auf den Aktenschrank zu setzen. Sie sollen sich dabei köstlich amüsiert haben. Damals war mir nicht ganz klar, was er mit seiner Schilderung bezwecken wollte, oder worin der Witz an diesem Unterfangen lag. Im Grunde war er stolz darauf, dass seine Hand nur ein hauchdünner Slip von ihren Schamlippen trennte. Es war die Vorstellung von der Berührung mit der ungenügend aufgesogenen, warmen Feuchtigkeit, die ihn zum Wortexhibitionisten stempelte. Er nutzte jede Gelegenheit, diese delikate Situation vor lüsternem Publikum wiederzugeben. Es fiel kein Wort über den Wert der Frau und auch meine Mutter beanstandete nie wirklich sein Verhalten. Seine Art wurde immer als humorvoll, spaßig und umgänglich interpretiert. Es gab eine Menge Dokumentationen seines Bonmots, aber sie gingen immer auf Kosten der Mitmenschen, während er absolut keine Kritik ertragen konnte, oder sie so zerredete und damit abschwächte, dass der eigentliche Inhalt völlig verloren ging.
Mein Vater trainierte mich schon als Bub zum Einzelgänger. Ich sollte mich von der Masse abheben. Er glaubte, wir wären einfach besser als der Rest der lächerlichen Menschheit. Er witzelte über alle und jeden, egal ob Maurer oder Arzt. Er lehnte jedwede Bekanntschaft ab. Er hatte ein probates Mittel gefunden, Fragen zu stellen, die eingeladenen Besuch bloßstellte. Er verulkte jeden, der sich unserer Familienidylle näherte. Aber auch bei meiner Mutter und für sich selbst wandte er diese Methode an. So verwehrte er jedem Eindringling den Zutritt. Ich durchschaute sein Spiel, solange ich ein Kind war, nicht. Für mich waren alle Menschen tatsächlich minderwertig. Sie hielten seiner Prüfung niemals stand, oder es war ihnen einfach zu aufreibend, sich einer dauerhaften Bloßstellung auszusetzen. Er konnte sicher sein, dass keine Fremden unser heiliges Leben störten. Nur bei den Vertretern, die meine Mutter geschäftlich besuchten, hielt er sich einigermaßen zurück. Besonders bei mir und meinem Bruder unterband er mit fadenscheinigen Argumenten jeglichen Kontakt zu Gleichaltrigen.
»Da kennen wie lieber keinen« , pflegte er zu sagen, wenn ich von einem neuen Freund, oder einer Freundin erzählte. Entweder waren sie zu arm, zu dumm, zu waghalsig, oder zu reich.
»Ich habe nichts gegen ein paar nette Freunde, aber solche Menschen passen nicht zu uns!« war sein Argument, mit dem er einen weiteren Umgang unterband.
Er nahm mich oft auf seinen Spaziergängen durch die Innenstadt mit. Ich durfte meinen Vater einmal in der Woche um vier Uhr Nachmittag vom Büro abholen. Er zeigte mir die Armseligkeit der Menschen auf der Straße. Das war der Beginn einer Tätigkeit, die ich Jahre später mit meinem besten Freund tagtäglich realisierte und keinen Moment daran zweifelte, dass ich sie erfunden hatte.
Mein Vater und ich tranken eine Afri-Cola im Schanigarten, oder saßen einfach nur im Park und verfolgten das bunte Treiben des achten Bezirkes und lachten über die Leute, die vorbeigingen.
Die Loslösung von der Menschlichkeit und des Mitleids vollzog sich bei mir schon im knabenhaften Alter, als ich mit meinem Vater die Kärntner Straße und den Graben entlang spazierte. Er richtete die Leute aus, währenddessen er mich, wie nebenbei anhielt, ihm die aufregendsten Frauen, die mir auffielen durch den Ausruf: »Pupperl!« zeigen sollte, falls ihm eine der auserkorenen Schönen durch die Maschen seiner Wachsamkeit schlüpfen sollte. In diesen Belangen war der biedere Familienmensch den Hippies äußerst zugetan. Die beliebtesten Ziele seiner Betrachtungen waren junge Mädchen mit Stirnband, Minirock und Lederstiefeln. Er drehte sich ungeniert nach ihnen um und stieß Laute aus, die man verwendet, um ein leckeres Essen auszuzeichnen.
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