Niemand von den Jungen erzählte etwas von dieser Nacht, und doch verbreitete sich bald das Gerücht, daß jemand die Tat bestraft hatte. Vielleicht kam es aus der Arztpraxis, wo einer der beiden seine Brandwunden behandeln lassen mußte, und obwohl er eine Ausrede erfand, konnten sich Arzt und Helferinnen ob der Ähnlichkeit der Fälle denken, wo hier der Zusammenhang bestand. Aber auch sie sahen keinen Anlaß, die Polizei zu verständigen. Die Tat war gesühnt, mag man es auch Selbstjustiz nennen. Und dem Opfer war Gerechtigkeit geworden - anders als erwartet, aber so, dass Ähnliches wohl so bald nicht geschehen würde in dieser Stadt. Als das Gerücht auch das Lehrerkollegium erreichte, dachte mancher an Thessi und seine Gruppe, aber bloßer Verdacht war schließlich kein Beweis - und außerdem: Der mißhandelte Fünftklässler schien Schmerzen und Schock wohl auch dadurch überraschend schnell überwunden zu haben. Und die Täter zu finden war doch schließlich Sache der Polizei. Aber die nahm keine Notiz von solchen Gerüchten. Erfuhren die Beamten nichts, oder wollten sie nichts hören? Jedenfalls legte man den Fall bald als ungeklärt zu den Akten.
Thessi wartete über eine Woche, bis er ein neues Treffen seines Geheimbundes anberaumte. Er wollte den Mitgliedern Zeit geben, um das Erlebte zu verarbeiten, aber in Wahrheit brauchte auch er diese Zeit, um der Erregung Herr zu werden, die ihn ergriffen hatte, um das Gefühl vollkommener Macht über Leben und Tod in sein Gedächtnis einzugraben und seine Träume vom rächenden Helden mit der Wirklichkeit zu verbinden. Auf den Zusammenkünften der Gruppe wurde übrigens kein Wort mehr über die nächtliche Aktion verloren, nur das Selbstbewußtsein der Jungen war seitdem sichtbar gewachsen, und je größer der Abstand, desto mehr fühlten sie sich als Helden, als Rächer, als Diener der Gerechtigkeit, wie es Thessi gesagt hatte.
Es währte nicht lange, daß Thessi diesen Erfolg wirklich genoß. Sicher - der Angriff des gesamten Bundes auf die beiden weit unterlegenen Gegner hatte vor allem symbolische Bedeutung, sollte er doch die Feigheit, die in solchem Vorgehen sich offenbarte, als solche brandmarken. Außerdem hatte er alle Mitglieder noch enger zusammengeführt und noch stärker zum Schweigen verpflichtet, denn schließlich hatte jeder von ihnen selbst Unrecht getan, um das Unrecht zu strafen. Und die fast schon schamanen- gleiche Handlungsweise ihres Anführers hatte einen tiefen Eindruck, ja eine irgendwie religiöse, angstbesessene Scheu vor Thessi zur Folge.
Und doch - es waren in seinen Augen nicht die Heldentaten, von denen er träumte. Wahre Helden handeln einsam; nur auf sich selbst gestellt vollziehen sie ihre mutigen, wagemutigen Taten. So suchte er immer drängender nach einer Möglichkeit, entsprechend zu handeln. Die kleine Stadt, inmitten des hügeligen holsteinischen Landes gelegen, weit ab von den Verbrechen der großen Städte, bot da naturgemäß wenig Chancen, gewaltige Untaten gewaltig zu strafen.
Doch dann tauchte in der lokalen Berichterstattung immer häufiger die Mitteilung auf, daß vor allem älteren, oft sogar gehbehinderten Frauen am hellichten Tage die Handtasche entrissen worden war. Aufmerksam verfolgte Thessi die Presseberichte, und bald erkannte er, daß trotz unter- schiedlicher Beschreibungen ganz offensichtlich stets derselbe Täter am Werke war. Besonders vor kleineren Bankfilialen erschien er wie aus dem Nichts, näherte sich dem ahnungslosen Opfer von hinten mit einem Fahrrad, riß ihm die Tasche aus der Hand oder von den Schulter, stieß sie meist auch zu Boden und verschwand, ehe jemand eingreifen konnte. Der Schock und meist auch die verursachten Schmerzen hinderten meist die Beraubten, sich irgendwelche verwertbaren Einzelheiten zu merken. So hatten die Ermittler wenig konkrete Anhaltspunkte. Und auch wenn der Polizeisprecher versicherte, man hätte besonderes Augenmerk auf die Umgebung von Geldinstituten, blieb eine solche Überwachung doch eher sporadisch. Und ein in der Nähe geparkter Streifenwagen mochte zwar besorgte Bürger beruhigen, er offenbarte jedoch zugleich dem Täter, wo er sich zurückhalten mußte.
Thessi dagegen ging anders vor. Seine wichtigsten Waffen waren Einfühlungsvermögen in die Sichtweise des Räubers, Zähigkeit und vor allem Geduld. Zunächst unterzog er alle Filialen von Banken und Sparkasse in der Stadt einer genauen Prüfung: Wo war wenig Verkehr auf der Straße, wo war ein günstiger Fluchtweg, um unerkannt zu entkommen? Wo konnte man von außen erkennen, ob ein potentielles Opfer nur eine Überweisung tätigte oder an einen Geld- automaten ging? Wo hatte der Täter bereits zugeschlagen?
Danach entschied sich Thessi für die Niederlassung der Kreissparkasse in einem ruhigen, gutbürgerlichen Vorort, an einer tagsüber wenig belebten Nebenstraße gelegen und - eine Filiale ohne menschliche Bedienung, nur mit Automaten ausgerüstet. Er besorgte sich aus einer nur ihm bekannten Quelle das täuschend echt aussehende Imitat eines handlichen Revolvers, organisierte ein Fahrrad, das er unangeschlossen neben der Eingangstür abstellte und suchte sich einen Platz im Schutz einer gegenübergelegenen Hecke, von dem aus er ungesehen die Straße überblicken konnte. Nun galt es, einfach zu warten, Tag um Tag, ohne sich enttäuschen zu lassen.
Und es dauerte drei lange Wochen, bis er einen jungen Mann sah, der mehrfach mit seinem Fahrrad vorüberfuhr und offensichtlich ebenfalls Interesse an dieser Filiale zeigte. Zuerst fuhr er nur langsam vorbei, dann stieg er ab, betrat den Automatenraum und studierte lange irgendwelche Aushänge, um sich dabei umzuschauen und die seltenen Kunden zu beobachten. Als dann eine ältere Dame hereinkam, auf einen Rollator gestützt dem Geldautomaten zustrebte, verließ er den Raum, nahm sein Fahrrad und radelte ein Stück weit die Straße entlang, um dann zu wenden.
Thessi verfolgte in großer Anspannung, was geschah, bereitete sich vor auf den Sprung hinüber auf die andere Straßenseite. Der Radfahrer, ein untersetzter junger Mann in unauffälliger Kleidung - Jeans, ein graues T-Shirt und ein Allerwelts-Baseballcap, das sein Gesicht gut beschattete - stoppte und blieb im Sattel sitzen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Er rauchte, fuhr aber nicht weiter. Da kam die Seniorin heraus, ihre kleine Handtasche im Korb des Rollators. Der Verdächtige warf die kaum angerauchte Zigarette fort, trat in die Pedale und fuhr geradewegs auf sein Opfer zu. Mit geschicktem Griff packte er die Tasche und trat dann kräftig gegen das Wägelchen, daß es seiner Besitzerin gegen die Beine stieß und sie straucheln ließ Ohne besondere Eile setzte er dann seine Fahrt fort. Niemand sonst war ja in der Nähe, der zugesehen hatte und ihn vielleicht verfolgen könnte.
Auch Thessi blieb unsichtbar und ließ ihm einen Vorsprung, ehe er aus seinem Versteck sprang, über die Straße hastete, ohne sich um die alte Frau dort am Boden zu kümmern, sein Fahrrad ergriff und dem anderen folgte. Auch er hatte keine Eile, sondern folgte dem Flüchtenden in gutem Abstand. Der unbemerkt Verfolgte bog in einen Fußweg ein, der durch den Park führte, hielt dort an einer Bank, lehnte sein Rad an die Armlehne und setzte sich. Dann nahm er die Tasche zur Hand, um sie in aller Ruhe zu plündern.
In diesem Augenblick näherte sich Thessi. Seine Rechte griff in die Hosentasche und umspannte den falschen Revolver, während er sein Rad einfach fallen ließ und sich neben den überraschten jungen Mann setzte. Offen hielt er nun die Waffe in der Hand, damit der andere sie sehen konnte, dann setzte er ihm den Lauf an die Schläfe. Der erstarrte, seine Hände begannen zu zittern. "Leg die Tasche hier zwischen uns," sagte Thessi ruhig. "Und tu, was ich dir sage. Das Ding könnte sonst ganz aus Versehen losgehen."
"Bitte," stammelte der andere, "es sollte doch alles nur ein Spaß sein." Thessis Stimme wurde ironisch: "Aber dies hier ist kein Spaß. Leg dein Geld und deine Scheckkarte in die Tasche. Und jetzt deinen Personalausweis, damit ich weiß, wie du heißt und wo du wohnst." Der andere gehorchte. Thessi las die Adresse. Er würde zu Fuß mindestens eine Viertelstunde bis nach Hause brauchen. Knapp aber nachdrücklich kam sein nächster Befehl: "Schreib deine Pin-Nummer auf einen Zettel. Und denke daran: Ich finde dich, wenn du jetzt trickst." Thessi steckte den Zettel ungelesen in die Tasche. Der Mann neben ihm machte nicht den Eindruck, als könnte er ihn hinters Licht führen, zu deutlich stand Todesangst in seinen Zügen. "Schließ dein Rad ab, gib mir den Schlüssel!" Vorsichtig drehte sich der Räuber zur Seite, gefolgt von Thessis Arm mit der Waffe. Mit der anderen Hand nahm er den Schlüssel entgegen und steckte ihn ein. "Jetzt deine Hausschlüssel!" "Bitte, ich..." Doch Thessi unterbrach ihn: "Die alte Frau steht jetzt auch ohne Schlüssel da, wenn sie wieder aufstehen kann. Und ohne Geld. Warum sollst du es besser haben." Er nahm das Schlüsselbund, das ihm hingehalten wurde, hielt es einen Augenblick wie nachdenklich in seiner Hand, dann warf er es mit weitem Schwung über den Weg in das gegenüberliegende dichte Gebüsch aus wilden Rosen. "Hör gut zu!" Thessi verlieh seiner Stimme einen dunklen, drohenden Klang. "Wenn es in der Stadt noch ein einziges Mal einen Raubüberfall gibt, wirst du es bitter bereuen. Ein Leben lang - falls dein Leben dann noch lang wird."
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