Zum ersten Mal seit langer Zeit legte sich ein Lächeln auf sein Gesicht.
»Wir haben bei unseren Diskussionen alle unheimlich viel Spaß gehabt und am Ende immer zusammen gelacht. Manchmal hat sich Heather bei ihren Beweisführungen total verzettelt, aber sie ist ihrer Linie trotzdem treu geblieben und hat uns mit den irrationalsten Argumenten den letzten Nerv geraubt, bis sie selber aus dem Kichern überhaupt nicht mehr rauskam. Als die Mädchen älter wurden, wurden auch unsere Wochenenddiskussionen seltener. Die beiden waren abends mit Freunden weg oder feierten Partys…; wenn sie am nächsten Tag irgendwann aus den Federn gekrochen kamen, dann war es eher Zeit zum Mittagessen als zum Frühstücken. Als dann auch noch Jungs in ihr Leben traten, bekamen wir unsere Mädels nur eher sporadisch zu sehen. Zeit für Spaßdiskussionen blieb da nicht mehr. Wir waren immer noch eine Familie, die felsenfest zusammenhielt, aber die Prioritäten verliefen doch in unterschiedliche Richtungen. Haben Sie Kinder, Sergeant?«
Tom Haggerty schluckte lächelnd ein Stück Brötchen herunter. »Oh ja, sieben Mädchen…«
John Simms sah ihn mit großen Augen an und entlockte dem Sergeant damit ein Schmunzeln.
»Ich weiß, was Sie gerade denken; das muss schlimmer sein, als einen Sack voll Flöhe zu hüten. Was soll ich sagen; Sie haben absolut recht. Wir wollten unbedingt einen Jungen, aber irgendwie haben wir es nicht hingekriegt und schließlich die weiße Fahne geschwenkt und aufgegeben. Nein, im Ernst: Meine Frau und ich kommen beide aus Großfamilien. Ich habe sieben Geschwister, meine Frau Hannah sechs. Wir kennen es nicht anders, als ein volles Haus zu haben, und so stand für uns von Anfang an fest, dass wir zumindest ein halbes Dutzend vollmachen würden. Als krönenden Abschluss der Familienplanung bekamen wir vor zwei Jahren Zwillinge. Ich wohne mit acht Frauen zusammen; glauben Sie mir, da macht man manchmal ganz schön was mit.«
»Oh das kann ich mir vorstellen. Ich wusste in den letzten Jahren bei nur drei Frauen schon manchmal nicht, wo mir der Kopf stand.«
John Simms blickte mit schrägem Kopf zu seiner Frau hinüber und erntete ein leichtes Lächeln. Die Traurigkeit in den Augen seiner Frau holte ihn jedoch abrupt wieder in die Gegenwart zurück. Er atmete tief durch und trank einen Schluck Kaffee, der schon lange nicht mehr heiß war. Sergeant Haggerty bemerkte sofort, dass die Wirklichkeit den Familienvater wieder eingeholt hatte und erwiderte nichts mehr. Er griff nach einem weiteren Brötchen und bemühte sich, in dieser schwierigen Situation als Gast in einem fremden Zuhause nicht allzu sehr zu stören.
Pamela Simms stand am Fenster und blickte gedankenverloren hinaus. »Da kommt Peter.«
Peter Warren parkte seinen alten, rostigen Dodge vor dem Haus und stieg aus. Er sah die Mutter seiner Freundin am Fenster stehen und winkte ihr mit einem gequälten Lächeln zu. Peter war vierundzwanzig und lebte seit fünfzehn Jahren in Los Angeles. Er hatte vor drei Jahren seine Lehre als Elektrotechniker abgeschlossen und war später über mehrere Umwege in den Filmstudios und schließlich bei der Schauspielerei gelandet. Er besaß längere Zeit keine festen Engagements, wurde aufgrund seiner Wandlungsfähigkeit vom Studio jedoch gerne für die verschiedensten kleineren Rollen eingesetzt.
Als zwei Monate zuvor eine Nebenrolle in ‘Westside Blvd.’ neu besetzt werden musste, hatte Heather die Produzenten und den Regisseur so lange genervt, bis sie Peter die Rolle anboten. Die Studiobosse kannten Peter Warren und seine Arbeiten, wodurch es für sie kein großes Risiko war, ihrem Nachwuchssternchen den Wunsch zu erfüllen. Zur Zeit wurde Peters Gesicht von einem mittelprächtigen Vollbart verunstaltet, den er für eine anstehende Rolle in einem Film über das Mittelalter benötigte. Bis dahin waren noch einige Wochen Zeit, sodass das unförmige Gestrüpp in seinem Gesicht noch ausreichend Gelegenheit hatte, sich in Form und Dichte zu entwickeln.
Mit schnellen Schritten legte er die wenigen Meter bis zur Tür zurück, wo John Simms ihn erwartete.
»Hallo, Mr. Simms. Haben Sie schon etwas von Heather gehört?«
John Simms schüttelte den Kopf. »Nein, Peter. Sonst hätte ich dich auch schon angerufen. Das hatte ich dir doch versprochen. Komm rein; möchtest du mit uns frühstücken?«
»Nein danke, Sir. Ich kriege keinen Bissen herunter. Hallo, Mrs. Simms. Sergeant.« Er ging auf Pamela Simms zu und legte seine Hand auf ihre Schulter. »Sie wird bald wieder da sein.«
Heathers Mutter nahm ihn in den Arm und drückte ihn an sich. »Ich hoffe es, Peter. Ich hoffe es.«
Sie löste sich von ihm und wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen ab. Dann wand sie sich wieder an den Sergeant, der noch immer mit seinem Frühstück beschäftigt war. »Glauben Sie, er wird wieder anrufen?« Ihre Stimme klang leise und ängstlich.
Tom Haggerty spülte das Brötchen mit einem kräftigen Schluck Kaffee herunter. »Natürlich, M’am. Er wird sich auf jeden Fall melden. Er will uns irgendetwas mitteilen, sonst hätte er gestern nicht angerufen.«
»Aber warum hat er gestern denn nichts gesagt?«
Der Sergeant schüttelte den Kopf, als sie ihn mit großen, fragenden Augen anstarrte. »Die Frage kann ich Ihnen beim besten Willen nicht beantworten. Aber ich bin mir ganz sicher, dass er wieder anrufen wird.«
Sie setzte sich zu ihm auf das Sofa und schüttete sich mit zitternden Händen eine Tasse Kaffee ein.
Kapitel 13 (Heather Simms)
Unruhig wälzte ich mich von einer Seite zur anderen. Meine innere Anspannung machte es mir unmöglich, auch nur für kurze Zeit Schlaf zu finden. Die gleichbleibende Dunkelheit in meinem Gefängnis hatte mein Zeitgefühl mittlerweile völlig außer Funktion gesetzt. Ich konnte beim besten Willen nicht sagen, seit wie vielen Stunden ich in diesem Raum eingesperrt war. Waren es zwölf? Fünfzehn? Oder war schon ein ganzer Tag vergangen? Hätte man mir verraten, dass ich in diesem Moment meine achtunddreißigste Stunde im spärlich möblierten Gästezimmer dieses Mannes verbrachte, so hätte ich es wahrscheinlich nicht geglaubt. Ohne Tageslicht und ohne regelmäßigen Schlaf hatten Angst und Anspannung die kleinen Rädchen meiner inneren Uhr in Rekordzeit zerstört.
Immer wieder kreisten meine Gedanken um meinen Vater. Dieser Mann musste Daddy abgrundtief hassen. Was konnte er dem Fremden nur angetan haben? Und warum regelten die beiden ihre Probleme dann nicht direkt miteinander, wie man es von erwachsenen Männern doch wohl erwarten konnte? Ich setzte mich aufrecht hin. Ein Kredit. Ja, das musste es sein. Dad hatte diesem Mann einen Kredit verweigert, weil er keinerlei Sicherheiten besaß. So etwas kam häufig vor und Dad hatte schon öfters erzählt, wie erbost und aggressiv manche Bankkunden auf die Ablehnung ihres Antrages reagierten. Aber er hatte doch auch nur seine Vorschriften. Er konnte doch schließlich nicht jedem dahergelaufenen Typen, der gerade knapp bei Kasse war, Geld in den Rachen schieben. Wenn der Mann am Telefon doch wenigstens mit meinem Vater gesprochen hätte, dann hätte man sicherlich einen Weg gefunden.
Ich stand auf und ging zu dem Tablett auf dem Tisch hinüber. Meine Augen hatten sich mittlerweile wieder gut an die Dunkelheit gewöhnt. Neben mehreren belegten Broten stand ein Teller mit Suppe, die mittlerweile kalt war. Ich griff nach einem Sandwich und biss nach kurzem Zögern hinein. Ich hatte keinen Hunger und eigentlich wusste ich selber nicht genau, warum ich das tat. Vielleicht war es einfach die Ungewissheit, wann ich das nächste Mal etwas zu essen bekommen würde. Das Käsesandwich schmeckte ziemlich trocken und ich spülte den Bissen mit einem Schluck Orangensaft herunter.
Was ging in diesem Moment wohl in meinen Eltern vor? Die beiden waren wahrscheinlich völlig fertig mit den Nerven. Mum hatte mit ihren Tränen wahrscheinlich schon einige Packungen Taschentücher durchnässt und Dad würde schier endlose Kilometer in seinem Wohnzimmer zurückgelegt haben. Meine Gedanken wanderten zu Peter weiter. Er musste wahnsinnig sein vor Angst. In den letzten Monaten war er zu einem der wichtigsten Menschen in meinem Leben geworden; er hatte mir Halt gegeben, wenn es mir nicht gut ging; hatte mich aufgebaut, wenn ich am Boden war. Was hätte ich alles dafür gegeben, ihn in den Arm nehmen zu können, seine Nähe zu spüren.
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