»Führt Heather vielleicht Tagebuch?«
Rhonda schüttelte den Kopf. »Nein, dafür hat sie überhaupt keine Zeit.«
Wir verließen das Zimmer und kehrten zurück ins Wohnzimmer.
»Wir möchten Sie bitten, mit niemandem über die Entführung zu sprechen. Wir haben bisher noch keine konkrete Spur und das Letzte, was wir im Moment gebrauchen können, ist eine Belagerung des Hauses ihrer Eltern durch sensationsgeile Medienvertreter. Die offizielle Stellungnahme des Studios besagt, dass Heather krank ist und bei den Dreharbeiten für mehrere Tage ausfällt.«
Rhonda nickte artig. »In Ordnung, Lieutenant. Von uns wird niemand etwas erfahren. Aber es wird ein komisches Gefühl sein, Heather heute Nachmittag in ‘Westside Blvd.’ im Fernsehen zu sehen. Ich hoffe, Sie finden sie schnell.«
»Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht. Übrigens: Heute und an den nächsten Tagen werden keine Folgen der Serie ausgestrahlt. Das Studio meint, es wäre pietätlos ‘Westside Blvd.’ während der Zeit ihrer Entführung weiterlaufen zu lassen. Wegen angeblicher rechtlicher Streitigkeiten wird in den folgenden Tagen eine fünfteilige Familienserie eingeschoben.«
Wir verabschiedeten uns von den beiden Mädchen und kehrten zu Marcs Wagen zurück, der auf der anderen Straßenseite parkte.
»Glaubst du wirklich, dass wir diese Geschichte geheim halten können?«, fragte Marc und sah mich skeptisch an.
Ich hätte in diesem Moment gerne Optimismus verbreitet, aber das fiel mir merklich schwer. »In einer Zeit, in der Twitter und Facebook die wichtigsten Dinge der Welt darstellen? Es wird wahnsinnig schwierig sein, alle Personen, die eingeweiht sind, von der Wichtigkeit ihrer Verschwiegenheit zu überzeugen. Ich denke, keiner von Ihnen wird dem Mädchen schaden wollen; aber wenn Menschen Informationen besitzen, die geheim sind und die sonst niemand kennt, dann kommt bei vielen doch dieses extreme Mitteilungsbedürfnis durch.«
Marc stimmte mir nickend zu. »Oh ja, das kenne ich. Diese ‘ Herr Lehrer, ich weiß was ’ Mentalität, bei der man ja zu einem coolen Mitglied der Gesellschaft werden kann. Und über Facebook oder Twitter kann man das eh viel schneller verbreiten, als die besten Klatschtanten im Friseursalon das jemals hinbekommen könnten.«
Ich blickte nachdenklich zum Haus zurück.
»Wir können nur hoffen, dass wir diese Informationen lange genug zurückhalten können, um überhaupt erst mal eine Spur zu finden, die uns zu Heather führt. Setz mich bitte bei den Hollywood Sunrise Studios ab! Ich habe mein Auto dort stehen lassen und bin den Weg hierher zu Fuß gegangen.«
»Den Weg, den Heather gestern nach Drehschluss gegangen ist?«
»Ja, genau. Ich weiß, unsere Jungs von der Spurensicherung haben schon jeden Quadratmeter genau unter die Lupe genommen, aber ich wollte trotzdem ein Gefühl für die Strecke bekommen.«
»Und? Was hat sie dir verraten?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Wenn man die Studios verlässt, folgt man erst einer recht verkehrsreichen Hauptstraße. Es waren vorhin viele Leute unterwegs, wobei man bedenken muss, dass heute Samstag ist. Kann Werktags natürlich ganz anders aussehen; da müssen wir uns noch mal umhören. Nach gut einer Meile biegt man auf eine ruhigere Straße ab, auf der schon nach gut zwei weiteren Meilen Heathers Haus auftaucht. Ich denke, dass sie irgendwo auf diesem Teilstück entführt worden ist. Ungefähr auf halber Strecke befinden sich auf beiden Seiten der Straße unbebaute Grundstücke. Wenn man nicht riskieren will, von einem Nachbarn gesehen zu werden, der am Fenster steht oder sich im Vorgarten aufhält, ist dort die sicherste Stelle für einen Übergriff.«
»Die Spurensicherung hat aber nichts gefunden, oder?«
Ich schüttelte den Kopf. »Keinerlei Hinweise. Dort ist alles asphaltiert, sowohl Straße als auch Gehweg. Keine Reifenspuren, keine Hinweise auf einen Kampf, keine liegengelassenen Gegenstände.«
»Hatte Heather keine Angst, dass ihr pubertierende Jungs auflauern könnten, wenn sie stets alleine nach Hause ging?«
Ich winkte spontan ab. »Nein, diese Gedanken hatte ich auch schon. Aber in den Studios erklären alle übereinstimmend, dass der Starkult bei Daily Soaps wohl nicht sonderlich stark ausgeprägt ist. Wir befinden uns hier in Hollywood, wo sich die kleinen und die großen Stars die Klinke in die Hand geben. Wahrscheinlich muss hier schon ein mehrfacher Oscar-Preisträger in Strapsen über die Straßen laufen, damit unsere lieben Mitbürger von ihrer Zeitung aufsehen oder das Schreiben einer SMS für ein paar Sekunden unterbrechen. Heather zumindest hat in der ganzen Zeit, in der sie für das Studio arbeitet, noch nie irgendwelche Probleme gehabt, wenn sie das Filmgelände verlassen hat.«
Wir stiegen schweigend in Marcs Wagen ein. Unsere bisher einzige Hoffnung auf Hinweise war der dunkelblaue Ordner, den ich nachdenklich betrachtete.
3. Tag
Pamela Simms saß auf dem Sofa ihres Wohnzimmers und wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen ab. Die frühe Morgensonne erhellte den geschmackvoll eingerichteten Raum. Pamela und John Simms hatten die ganze Nacht über kein Auge zugemacht, die Sorge um ihre Tochter hatte sie gnadenlos um den Schlaf gebracht. Nachdem sich der Entführer bis kurz vor Mitternacht nicht gemeldet hatte, waren die beiden in ihr Schlafzimmer gegangen. Doch schon nach kurzer Zeit war ihnen klar geworden, dass die Stille der Nacht eine unangenehme Begleiterscheinung mit sich führte: Nachdem sie sich zur Ruhe gelegt hatten, befreiten sie ungewollt ihre Phantasie von den Fesseln des wachen Bewusstseins.
Gedanken kreisten durch ihre Köpfe, malten schreckliche Bilder und erzeugten leidvolle Geräusche. Ohne es verhindern zu können, durchlebte ihre Tochter in ihren von Angst durchsetzten Gedanken mehrmals schreckliche Stunden, in denen sie gequält, gefoltert, vergewaltigt und getötet wurde. John Simms versuchte, diese Bilder zu vertreiben; es war doch schließlich möglich, das alles gut ausging. Doch wie eine in der Fremde ausgesetzte Brieftaube, kehrten auch die bösen Gedanken schnell und zielstrebig zu ihrem Stall zurück und bohrten sich gnadenlos in die Köpfe der besorgten Eltern.
Die beiden waren schließlich zurück ins Wohnzimmer gegangen und hatten Sergeant Haggerty, der für die Nachtschicht im Hause Simms eingeteilt worden war, Gesellschaft geleistet. Sie hatten sich fast die ganze Nacht hindurch über belangloses Zeug unterhalten und dabei ein wenig von der Ablenkung gefunden, die ihnen in ihrem Schlafzimmer verwehrt geblieben war.
John Simms brachte ein Tablett herein und stellte es auf den Tisch. »Der Kaffee ist ziemlich stark, ich hoffe es ist Ihnen recht, Sergeant.«
Tom Haggerty streckte sich und gähnte herzhaft. »Er kann gar nicht stark genug sein. Eine Koffeinbombe ist genau das, was ich jetzt brauche.«
Pamela Harris holte drei Tassen aus dem Schrank und verteilte sie auf dem Tisch. »Es tut mir leid, dass Sie sich ganz umsonst die Nacht um die Ohren geschlagen haben.«
Sergeant Haggerty winkte energisch ab. »Das gehört zu meinem Job, M’am. Und abgesehen davon hatte ich ja nette Gesellschaft.«
John Simms stellte ein paar aufgebackene Brötchen, sowie Konfitüre, auf den Tisch und setzte sich auf das Sofa. »Bedienen Sie sich, Sergeant. Ich habe im Moment keinen Hunger, also schlagen Sie ruhig zu.«
»Danke, Sir. Das wäre aber nicht nötig gewesen.«
»Früher haben wir am Wochenende immer zusammen mit unseren Töchtern gefrühstückt; das war irgendwie schon ein Ritual. Wir haben am Esstisch gesessen und uns über Gott und die Welt unterhalten. Bei uns wurde morgens keine Zeitung gelesen, oder ferngesehen; bei uns gab es wirklich noch Familienleben. Angie und Heather übertrafen sich manchmal gegenseitig in puncto Albernheit. Es ging dabei um alle möglichen Themen: Schule, Arbeit, Freunde, Kino, aktuelle Ereignisse aus den Nachrichten ...; Heather liebte es besonders, kontrovers zu diskutieren. Wenn es eine mehrheitlich vertretene Meinung gab, dann konnte man sicher sein, dass unsere Jüngste den gegensätzlichen Standpunkt vertrat. Sie konstruierte ganz spontan logische Beweisketten für abstruse Meinungen, hinter denen sie eigentlich überhaupt nicht stand; die sie aber vehement vertrat, weil sie wusste, dass sie Angela und mich damit auf die Palme bringen konnte.«
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