Ursula Reinhold
"Erlesene" Zeitgenossenschaft
Begegnungen mit Autoren und Büchern
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Ursula Reinhold "Erlesene" Zeitgenossenschaft Begegnungen mit Autoren und Büchern Dieses ebook wurde erstellt bei
Selbstbegegnung im www
Eine Literaturgeschichte und ihre Autoren
Redakteurin bei den „Weimarer Beiträgen“
ZIL - Jahre
Seitenblicke auf Kollegen
Lebendige Zeitgenossenschaft
Hans Magnus Enzensberger. Eine aufregende Begegnung.
Rückblicke
Annäherung 1980
Erneute Annäherung
Peter Schütt
Begegnung einer DDR-Bürgerin mit einem Revolutionär
Von Basbeck am Moor über Moskau nach Mekka
Münchener Begegnungen
Begegnung mit Uwe Timm
„Erzählen und kein Ende“
Eigensinn und Ästhetik
Autobiografische Erfahrung und geschichtliche Authentizität
Ferne Welten
Schelmenroman als Gesellschaftssatire: „Kopfjäger. Bericht aus dem Inneren des Landes“ (1991)
Wiederbegegnung
„Berlin“ in Uwe Timms Romanen
Begegnung mit Martin Walser
Deutschland-Gespräch
Deutschland im literarischen Horizont Martin Walsers
Beobachtungen an neueren Walser Romanen
Berufe in Walser Romanen
Liebe und Ehe in Walsers neueren Romanen
Literatur und Öffentlichkeit
Ein springender Brunnen
Schriftsteller und Schreiben im erzählerischen Horizont
„Die Verteidigung der Kindheit“
Begegnung mit Dieter Wellershoff und seinem Werk
Existenzielle und geschichtliche Grunderfahrung
Literaturverständnis
Figurenkonstellationen, Erzählformen und Aufbauweisen in Romanen
Literarische Verhaltensphänomenologie: Der Einzelne in Freiheit verloren. Sozio-Psychogramme von Opfern und Tätern
Gewöhnliche Katastrophen
Erzählte Erinnerung
Impressum neobooks
Vielfältig können Motive für einen Rückblick sein. Im vorliegenden Fall ist es das Bedürfnis, sich die Kontexte zu vergegenwärtigen, in denen ich in der DDR arbeitete und dachte. Dabei geht es vorzüglich darum, mir die Motive und Intentionen der eigenen Arbeit bewusst zu machen, Selbstvergewisserung, wenn man so will. Im Erinnerungsbuch „Schwindende Gewissheiten“ schildere ich individuelles Werden, wie es sich unter den Bedingungen der DDR zutrug. Es werden die Faktoren familiärer, sozialer und geistiger Eindrücke dokumentiert, die das persönlich-mentale Befinden bestimmen und im Laufe der Zeit, bis zum Ende der DDR verändert haben. Ein Bericht, der nicht nur mit der eigenen Situation zu tun hatte. Dabei blieb meine Arbeit als Literaturwissenschaftlerin weitgehend ausgeklammert, für meine Erfahrungen auf diesem Felde fehlte mir ein Ausdruck. Aber seither habe ich immer nach Wegen gesucht, um auf sie zurückzukommen. Denn meine „Gegenstände“, zeitgenössische Autoren und ihre Bücher, begleiteten mich auch weiterhin, ihnen wollte und konnte ich nicht entkommen.
Es geht hier nicht um ein Resümee meiner wissenschaftlichen und publizistischen Arbeiten, sondern um die Anstöße zum Nachdenken, die mir Begegnungen mit Menschen und ihren Büchern gaben. Ihnen möchte ich hier nachgehen. Dabei handelt es sich um eine subjektive, vielleicht zufällige Auswahl, die ich gar nicht erst versuchen werde zu begründen. Mein Verhältnis zu den ausgewählten Beispielen war Wandlungen unterworfen, wie sich auch die Gegenstände der Betrachtung nicht gleich geblieben sind. Aus Ignoranz wurde Verstehen, Annäherung, die kritische Distanz nicht ausschließt; insgesamt geht es um einen Lernprozess, der sicherlich nicht vor neuen Irrtümern bewahrt.
Einen äußeren Anlass, um mit der Rückschau auf Publiziertes zu beginnen, bildete die Selbstbegegnung im www. Seit einigen Jahren gehöre auch ich zur weltweiten Kommunikationsgemeinde, die sich im Internet begegnet. Irgendwann suchte ich nach dem eigenen Namen bei Google, komisch, es fiel mir erst nach Monaten meiner neuen Errungenschaft ein, dass das möglich war. Und tatsächlich, Veröffentlichungen von mir sind angezeigt, von denen ich annahm, dass sie längst der Vergessenheit anheimgefallen sind. Es wäre mir, offen gestanden, sogar lieber gewesen, nicht mehr mit ihnen konfrontiert zu werden. Aber Antiquariate arbeiten eben zuverlässig, und wer sich in die Öffentlichkeit wagt, geht so schnell nicht verloren. Das festzustellen, löste bei mir ziemlich peinliche Gefühle aus. Denn auf solche Selbstbegegnung war ich in keiner Weise vorbereitet. „Antihumanismus in der westdeutschen Literatur“ (1971) lautete der Titel der Veröffentlichung, die aus der überarbeiteten Fassung meiner Dissertation hervorgegangen war, die ich am Institut für Gesellschaftswissenschaften verteidigt hatte. In dem bei Dietz erschienenen Band wurde der Versuch gewagt, aktuelle literarische Vorgänge in der Bundesrepublik seit Mitte der sechziger Jahre darzustellen, Strömungen auszumachen und zu charakterisieren. Seit Langem ist mir bewusst, dass dieser Überblick in Inhalt und Methode recht dilettantisch ausgefallen ist. Noch heute wundere ich mich darüber, dass der Dietz Verlag das gedruckt hat. Sie spiegelt den damaligen Stand meines Wissens, und der war eben nicht sehr entwickelt. Es fehlte mir an literaturgeschichtlichem und literaturtheoretischem Wissen, ich war unsicher und suchte nach Anhaltspunkten für die selbst gestellte Aufgabe, Tendenzen aktueller westdeutscher Literaturentwicklung zu analysieren und überschaubar darzustellen. Da griff ich zu gängigen Stichworten, Kategorien wie Humanismus und Menschenbild, Realismus und Dekadenz, die in der marxistischen Ästhetik eine Tradition hatten, ich kannte Georg Lukács´ Arbeiten und griff zu dem damals gerade veröffentlichten Buch von Hans Koch „Marxismus und Ästhetik“, in dem es aktuellere Ableitungen gab. In meinem optimistisch-schematischen Weltbild standen Antihumanismus und Dekadenz für den niedergehenden Kapitalismus, während Humanismus und Realismus auf der Seite der fortschreitenden Menschheitsentwicklung zu finden waren, von der wir in der DDR ein Teil zu sein glaubten. Ich versuchte, mit diesen Kategorien zu hantieren, sie auf die gegenwärtige Entwicklung der Literatur anzuwenden. Im Ergebnis meiner Bemühungen konstatierte ich eine antihumanistische, eine humanistische und eine antiimperialistische Strömung in der derzeitigen westdeutschen Literatur. Literarische Wertungsarten fielen bei diesem starren Schema unter den Tisch.
Und da finde ich nun unter meinem Namen den Hinweis auf einen Artikel von Volker Hage, den “Die Zeit“ am 16. März 1973 gedruckt hatte und der sich wohl auch noch in meinen Unterlagen finden wird. Aber ich hatte ihn vollkommen vergessen, und da begegnet er mir nun erneut. „Ist Wellershoff antihumanistisch?“, steht klein über der in größeren Lettern gedruckten Überschrift und die lautet: „Angeblich zum Nutzen der Herrschenden“. Es handelte sich um eine Rezension zu meinem oben genannten Erstling mit dem ominösen „Antihumanismus“ in der Überschrift. Nun erinnere ich mich auch wieder an die erste Lektüre dieser Rezension, die man mir zugeschickt hatte. Es war ein tiefer Schreck, als ich mich mit meinen höchst provisorischen Untergliederungen und Bestimmungen so ernst genommen sah, und meine Darlegungen hier nun sogar als offizielle Parteilinie ausgegeben fand. Und dabei war es doch so, dass ich die Parteilinie in Sachen Literatur und Kultur weder genau kannte, noch sie verstehen konnte. Ich wollte daran glauben, dass es sie gab, und ihr auch eine höhere Weisheit zugrunde lag.
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