Aber zugleich fühlte ich mich immer auch ganz hilflos, außerstande, die neuesten Verlautbarungen zu begreifen; sie zu begründen oder gar zu vertreten, das lag außerhalb meiner Möglichkeiten. Und nun fand ich meine höchst unzulänglichen Bemühungen so gewichtig genommen. Das erschreckte mich gehörig. Ich war weit davon entfernt, Wellershoff oder andere Schriftsteller als Antihumanisten anzusehen. Klassifikationen, hatte man mir gesagt, trügen objektiven Charakter, und so schwebte mir damals vor, dass sich antihumanistische Wirkungen unabhängig vom Willen des Autors einstellen können, eben wenn die Sicht auf den Menschen und die Gesellschaft nicht auch mögliche Veränderungen ins Blickfeld rückt. Glücklicherweise bemerkte ich bald, nicht zuletzt durch die Beobachtung der rasant ablaufenden gesellschaftlichen Veränderungen in den späten Sechzigerjahren, wie wenig der Umgang mit kategorialen Bestimmungen aktuellen politischen wie literarischen Prozessen gerecht wird. Schnell verabschiedete ich mich von solchen Kategorien, griff Kriterien auf, die im Entwicklungsprozess selbst entstanden oder dort wieder in Gebrauch genommen worden waren und begann mit differenzierterem Verständnis zu arbeiten. Immerhin war ich lernfähig genug, um zu sehen, dass sich der Literaturprozess anders entwickelte, als meine vorgegebenen Begrifflichkeiten glauben machen wollten. Bei Brecht las ich, wie er solche Verfahren glossierte. Er machte sich über eine Wissenschaft lustig, die zu dem Ergebnis kommt, dass diese Tauben falsch fliegen. Kategoriales Denken wurde mir zunehmend suspekt, ich begriff, wie verfehlt meine Herangehensweise war und suchte nach Gesichtspunkten, von denen die Akteure der Entwicklung sich selbst leiten ließen, um der komplexen und sich ständig verändernden Wirklichkeit auf die Spur zu kommen. Meine Sicht aufs Reale wurde differenzierter und konkreter, immerhin war ich neugierig und offen genug, um den ideologischen Prämissen und Schemata nicht sklavisch zu folgen. Langsam, Schritt für Schritt begann ich ihnen zu entgehen. Das Ergebnis meines Umdenkens schlägt sich in publizierten Einzelbeiträgen und in der Buchveröffentlichung „Literatur und Klassenkampf“ (1976) nieder. Hier finden sich nun wiederum neue Einseitigkeiten. Es ist der schon im Titel vollzogene Kurzschluss zwischen Literatur und Politik, der sich allerdings aus der oberflächlich betrachteten Szenerie der bundesrepublikanischen Verhältnisse ableitete, in der sich eine ganz unmittelbare Beziehung zwischen den beiden Sphären entwickelt hatte. Natürlich war es so, dass es literarische Erscheinungen gab, die davon gar nicht, wenig oder nur mittelbar betroffen waren, und sie blieben dann auch weitgehend außerhalb meines Blickfeldes. Solche Kurzschlüsse waren dem literarischen Prozess ihrerseits unangemessen und verkürzten die Sicht auf die vielfältigen Wirkungsmöglichkeiten, die der Literatur innewohnen können. Es ist sicherlich so, dass auch in folgenden Arbeiten etwas von diesen Kurzschlüssen erhalten geblieben ist, langsam erst revidierte ich sie Schritt für Schritt und ersetzte sie durch konkretere Umgangsweisen mit Literatur. Zwar habe ich mit kritischen und wissenschaftlichen Arbeiten zu einzelnen Werken und Autoren auch publizistischen Zuspruch gefunden, auch das kann man im www finden, aber darum geht es hier nicht.
Groß war auch mein Entsetzen angesichts der digitalen Begegnung mit Manfred Jäger. Der Publizist hat u. a. für die Beilage der Zeitschrift „Das Parlament“ einen Beitrag über DDR-Literaturwissenschaft geschrieben. Anhand eines Zitats aus einer meiner Publikationen finde ich mich dort als Beleg für eine SED-offizielle Sicht auf die westdeutsche Literatur wieder. Das Zitat stammt aus dem Jahr 1970, es ist aus seinem Zusammenhang gerissen und läuft mir nun vierzig Jahre später als offizielle Parteilinie hinterher. Dabei hatte ich mit der doch immer meine Schwierigkeiten, verstand sie meist nicht. Aber ihren sozialistischen Zielen fand ich mich schon verbunden, will jetzt nicht so tun, als wäre das anders gewesen. Ja, wer war oder hat damals eigentlich die Linie bestimmt? Vielleicht war ich es doch, wer weiß das!
Jedenfalls graust mir bei dem Gedanken, dass Dinge, einmal in die Welt gesetzt, ihr Eigenleben führen und mit dem Urheber nur noch wenig zu tun haben.
Aber andererseits finde ich es auch ganz und gar in der Ordnung, dass nun die Kritik, die ich an anderen geübt habe, zu mir zurückkehrt.
Ja, damals glaubte ich mich vor den Autoren, denen ich meine Aufmerksamkeit angedeihen ließ, durch eine Mauer geschützt. Ein Zeitalter wären wir ihnen voraus, hatte man mir gesagt, und ich war stolz darauf, in einer so zukunftsbewussten neuen Gesellschaft zu leben. Die würden auch schon noch begreifen, wohin die Reise der Geschichte ginge, dachte ich mir und war befriedigt bei solchem Gedanken.
Mit solchen Selbstbegegnungen begann die Idee zu dieser Rückschau zu reifen.
Vorweg erscheint es mir notwendig, Etappen meiner wissenschaftlichen Laufbahn zu skizzieren, die kurz war und doch eine wesentliche Zeit meines Erwachsenenlebens einnimmt: 1970-1991, so datiere ich sie, denn in diesem Jahr wurde das Zentralinstitut für Literaturgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR (ZIL) abgewickelt. Von 1992-1997 bekam ich innerhalb des Wissenschaftler-Integrationsprogramms, das Bestandteil des Hochschul-Erneuerungsprogramms (kurz: WIP im HEP) war, einen Vertrag am Germanistischen Institut der Humboldt Universität. Hier arbeitete ich an einem von Professor Ursula Heukenkamp geleiteten Forschungsprojekt zur Nachkriegsliteratur in der Viersektorenstadt Berlin (1945-1961) mit.
Eine Literaturgeschichte und ihre Autoren
Einen wichtigen Erkenntnisschritt in Bezug auf die Komplexität und die Geschichte des literarischen Prozesses seit dem 2. Weltkrieg brachte mir die Teilnahme an der Erarbeitung des Bandes, der sich mit der Geschichte der BRD-Literatur befasste. Er galt als Band 12 der „Geschichte der Deutschen Literatur“ und erschien im Jahr 1983 im Verlag Volk und Wissen. Bei seinem Erscheinen lag eine ziemlich lange Entstehungszeit hinter den Autoren und den Verlagsverantwortlichen. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits die zehn Bände des Großprojekts zur „Geschichte der Deutschen Literatur von ihren Anfängen bis zur Gegenwart“ veröffentlicht, die parallel zu einer allgemeinen Darstellung der „Geschichte des deutschen Volkes“ geplant worden waren. Die Konzeption für die Erarbeitung einer deutschen Literaturgeschichte durch DDR-Wissenschaftler ging bis in die sechziger Jahre zurück. 1964 veröffentlichte die Redaktion der „Weimarer Beiträge“ eine „Skizze zur Geschichte der deutschen Nationalliteratur“, in der eine Arbeitsgruppe erste konzeptionelle Überlegungen für eine Gesamtdarstellung vorstellte. Fragen nach der Herausbildung von Realismus und Humanismus, nach dem Charakter von Menschenbildern konstituierten auch hier die theoretischen Grundlinien für den literaturgeschichtlichen Überblick. In dieser Skizze ging man davon aus, dass auch die Phase der jüngsten deutschen Literaturentwicklung als ein einheitlicher Komplex zu behandeln sein würde. Für die Darstellung der Literaturentwicklung seit dem 2. Weltkrieg, wurde ein Band veranschlagt, der die in der DDR entstandene Literatur zusammen mit der humanistischen westdeutschen Literatur umfassen sollte. Diese Sicht entsprach der in den Fünfzigerjahren konzipierten nationalen Politik der DDR-Führung, die auf eine Einheit Deutschlands hinarbeitete. Inzwischen war allerdings eine politische Situation entstanden, in der sich deutlich abzeichnete, dass die Entwicklung in beiden Teilen Deutschlands sich immer stärker voneinander entfernte. Die Integration in zwei verschiedene Blocksysteme und nicht zuletzt die entschiedene Grenzziehung im August 1961 hatten Aussichten auf Annäherung und Vereinigung in weite Ferne gerückt. Den Parteiideologen in der DDR gelang es erst nach und nach, neue politisch konzeptionelle Begründungen und Perspektiventwürfe zu finden. Man begann den Begriff der Nation, auf den Kleinstaat DDR zu beziehen, der Terminus sozialistische Nation kam in Umlauf. Sie sollte als Keimzelle eines sozialistischen Gesamtdeutschlands gelten, deren Realisierung erst für eine ferne Zukunft anvisiert war. Das Konzept der nationalen Einheit wurde fürs erste begraben, man rechnete für lange Zeit mit der Realität zweier deutscher Staaten. Zwischen Abgrenzung und der Wahrnehmung besonderer Verantwortung bewegten sich in den folgenden Jahren die politischen und ideologischen Prämissen der DDR gegenüber dem anderen Deutschland.
Читать дальше