„Hartgekochte Eier sind bei einem Picknick sehr praktisch“, hatte meine Mutter gemeint, die während unserer Tätigkeit glücklich vor sich hin gesummt hatte.
Bei dem gemäßigten Tempo, mit dem mein Vater durch die Stadt fuhr, ging es mir noch einigermaßen gut, doch kaum waren wir auf der Autobahn, musste ich ihn bitten, den nächsten Parkplatz anzusteuern, damit sich mein rebellierender Magen an der frischen Luft beruhigen konnte.
„Na, toll“, beklagte sich meine Mutter vorwurfsvoll, nachdem wir angehalten hatten, während ich mir, erleichtert, dass die Fahrt unterbrochen war, bei geöffneter Wagentür auf der Rückbank sitzend gleichmäßig atmend vorsichtig über den Bauch strich und darauf wartete, dass meine Übelkeit nachließ. „Jetzt werden wir zu spät kommen. Sicher wird uns der Gasthofbesitzer dann für unzuverlässig halten und uns erst gar nicht mehr empfangen wollen.“
„Ach was“, versuchte mein Vater, meine Mutter zu beruhigen und mir gleichzeitig mein schlechtes Gewissen zu nehmen. Er war schlau genug, nicht daran zu erinnern, dass er eine Stunde früher hatte losfahren wollen, meine Mutter aber darauf bestanden hatte, an einem Sonntag wie die normale Bevölkerung auszuschlafen. „Der Mann hat mir gesagt, dass er gleich nebenan wohnt. Der wird sich schon nicht die Beine in den Bauch stehen, sondern sich die Zeit auf seinem Grundstück sinnvoll vertreiben.“
„Geht‘s denn nun wieder, Susi?“, wollte meine ungeduldige Mutter wissen.
„Ich ... bin mir nicht sicher.“
„Wir warten einfach noch ein paar Minuten“, entschied mein Vater, stieg aus und ging zum Kofferraum. „Möchte jemand Limonade?“
Nachdem mein Vater etwas getrunken hatte, setzten wir die Fahrt fort, mussten aber, weil es mir wieder schlechter ging, noch an einem weiteren Rastplatz halten. Schließlich verließen wir die Autobahn und fuhren in gemächlicherem Tempo durch Ortschaften und über von Feldern und Viehweiden gesäumte Landstraßen.
„Schafshausen sechs Kilometer: Da steht‘s“, verkündete mein Vater plötzlich und zeigte auf ein gelbes Hinweisschild am rechten Straßenrand, auf das wir zufuhren. „Wir sind gleich da. Schafshausen. Klingt nicht gerade wie das Zentrum des Universums.“
„Meinetwegen könnte es auch Entenhausen heißen“, meinte meine wieder besser gelaunte Mutter unbeschwert. „Solange wir dort unser Glück finden.“
Etwas später wehte ein ekelhafter Geruch durch das immer noch offene Autofenster neben mir.
„Puh“, stöhnte meine Mutter. „Da kann einem ja ganz anders werden. Kurbel bloß schnell die Scheibe hoch, Susi!“
Das tat ich sofort, doch wurde der Gestank, je weiter wir fuhren, immer schlimmer, und mein Magen begann, wieder unruhig zu werden.
„Schweinegülle, ganz unverkennbar“, erklärte mein Vater. „Man kann den Geruch ganz leicht von Rindergülle unterscheiden, weil ...“
„Günther, das ist ja wohl jetzt nicht dein Ernst!“, warnte ihn meine Mutter weiterzusprechen.
Der Ortseingang von Schafshausen kam in Sicht, und kurz davor mehrere längliche Gebäude.
„Das sind Schweinemastställe“, klärte uns mein Vater, der in einer ländlichen Gegend aufgewachsen war, auf. „So einen Riesenbetrieb habe ich noch nie gesehen. An den Geruch werden wir uns also gewöhnen müssen, wenn wir hier wohnen.“
Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass mein Vater bei diesen Worten gegenüber meiner Mutter Schadenfreude empfand. Während wir auf der Suche nach dem Gasthof langsam durch den Ort fuhren, fielen uns die vielen verlassen wirkenden Häuser mit teilweise verwilderten Vorgärten auf. Auf manchen Grundstücken wies ein Schild darauf hin, dass die Häuser zum Verkauf standen.
„Ein Geisterdorf“, stellte mein Vater fest.
„Also, ich steige hier erst gar nicht aus“, verkündete meine enttäuschte Mutter. „Dreh irgendwo und lass uns zurückfahren.“
„Ich glaube, ich muss erst noch einmal raus“, stöhnte ich.
„Wir werden dem Gasthofbesitzer zumindest sagen, dass wir kein Interesse mehr haben“, entschied mein Vater. „Das gehört sich so. Da vorn ist es.“ Er meinte ein gräuliches zweistöckiges Gebäude, das hinter Bäumen und Büschen etwas abgelegen von der Hauptstraße, die durch Schafshausen führte, stand, und hielt am Straßenrand. Sofort riss ich die Tür auf und stürzte auf wackeligen Beinen zum nächsten Gebüsch, um mich dort zu übergeben. Erst als ich meinen Magen entleert hatte, fiel mir der Mann auf, der vor dem Gasthof im ungemähten Gras stand und auf den mein Vater zugegangen war. Der Mann war sicher siebzig Jahre alt und trug trotz des warmen Wetters schwarze Gummistiefel über seiner khakifarbenen Kordhose. Sein graues Baumwollhemd hatte er bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt. Seinen Kopf bedeckte eine Kordmütze in der Farbe seiner Hose.
„Herr Meck, das ist meine Tochter Susi“, stellte mich mein Vater dem Gasthofbesitzer vor.
„Manni Meck, freut mich“, erwiderte der Mann und reichte mir seine schweißfeuchte, schwielige Hand. „Das Fräulein hat wohl einen empfindlichen Magen, was?“
„Also, wie gesagt, Herr Meck“, antwortete mein Vater, ohne auf dessen Kommentar einzugehen, „leider kommt Ihr Gasthof für uns nicht in Betracht. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.“
Bevor mein Vater und ich zurück zum Auto gingen, warf ich noch einen Blick auf das Gebäude, und erst jetzt fiel mir auf, dass es einmal weiß gewesen war, denn Reste des ehemaligen Anstrichs waren noch über der Eingangstür vorhanden, wo vermutlich erst kürzlich das Schild mit dem Namen des Gasthofs abgenommen worden war. Sicher hatten die vergilbten Gardinen, die an den Fenstern hingen, früher ebenfalls eine strahlendere Farbe gehabt. Das Holz der Eingangstür und das der Fenster war hellbraun und wirkte wie von der Sonne ausgetrocknet.
„Lass uns bloß von hier verschwinden!“, forderte meine Mutter, sobald mein Vater und ich wieder im Wagen saßen.
„Wir nehmen eine andere Strecke zurück“, verkündete mein Vater, nachdem wir Schafshausen, die Schweineställe und den Gestank endlich hinter uns gelassen hatten. „Landstraße statt Autobahn. Das dauert zwar länger, aber so können wir uns ein schönes Plätzchen für ein Picknick suchen.“
Bei dem Gedanken an Hackbällchen und hartgekochte Eier drehte sich mir schon wieder leicht der Magen.
„Dass du nach diesem Reinfall noch an essen denken kannst!“, antwortete meine Mutter vorwurfsvoll. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie mit den Tränen kämpfte.
„Es ist ja noch früh“, kam ihr mein Vater versöhnlich entgegen. „Das mit dem Picknick können wir uns ja noch überlegen. Genießen wir jetzt erst einmal die schöne Natur.“
Die weitere Fahrt verlief zunächst schweigend und wurde nur von dem gelegentlichen Schniefen meiner am Boden zerstörten Mutter unterbrochen. Ich hatte mich auf die linke Seite der Rückbank gesetzt, da diese auf der Schattenseite lag, das Fenster neben mir wieder geöffnet und ließ mir den Sommerwind um die Nase wehen. Sicher würden sich meine Sommersprossen heute vermehren.
Wir waren etwa eine Stunde unterwegs und hatten gerade wieder eine Ortschaft verlassen, als mein Vater nach kurzer Beschleunigung auf der von großen Bäumen gesäumten Landstraße abbremste und dann nur noch im Schritttempo vorankam. Ein Stau hatte sich gebildet. Der Grund dafür war noch nicht erkennbar. An der linken Straßenseite lichteten sich nun die Bäume, und es kam ein Parkplatz voller Autos zwischen einem Gebäudekomplex aus Backstein in Sicht. Auf einem länglichen, L-förmigen Gebäude leuchtete trotz des hellen Sommerwetters in riesigen neonroten Buchstaben das Wort „Motel“. Neben einem weiteren Gebäude, das näher an der Straße stand, verkündete ein Schild, dass es darin einen Imbiss und alles für die Reise gebe.
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