In der eisig klaren Luft und dem schwirrenden Licht der noch tief stehenden Wintersonne wirkten die Kaupen wie aus einem Märchen, wie vom Rest der Welt durch ein weißes Meer getrennte Inseln, jede davon eingefasst von einem Streifen Gehölz und Buschwerk. Auf einer dieser Insel standen zwei Männer vor einem vom Schnee verhüllten Grundstück, auf dem das fast im Weiß versunkene Häuschen kaum auffiel und sahen dem Heli entgegen, der Schneeschleier aufwirbelnd in ihrer Nähe herabsank.
Werner Metag stieg mit den Rettungskräften aus dem Hubschrauber und versank erst einmal knietief im Schnee. Hier war noch nicht geräumt worden. Nur einzelne Furchen zogen sich von den abgestellten Fahrzeugen zum Hoftor und von dort in langen Linien zum Haus und weiter zu Scheune und Stall.
„Wer weiß, wann die Kriminaltechnik bei dem Wetter hier rauskommt,“ begann Fred ohne Einleitung und Erklärung zu sprechen, „aber ich denke, hier musst du die Entscheidungen treffen.“ Damit wandte er sich abrupt zur Seite und stapfte durch eine der Furchen, die der Revierleiter von Burg erst vor kurzem gebahnt hatte, voran. Dem Rettungssanitäter, den er von früheren gemeinsamen Einsätzen kannte, winkte er nur knapp mit der Hand. Über die Schulter sagte er noch zu ihm: „Nimm Trage und Decken gleich mit, die Wege hier willst du nicht zweimal gehen, glaub mir.“
Der ältere Mann, der neben Fred gestanden hatte und bis jetzt mit angespanntem Blick zum Dach eines der entfernten Nebengebäude geschaut hatte, als ob er etwas Ungeheuerliches von dort erwarten würde, wandte sich nun den anderen zu. Er bewegte unbehaglich die Schultern, als ob er zusammenzucken oder etwas von sich schütteln wollte. Nach einem kurzen Räuspern begann er mit belegter Stimme zu sprechen: “Polizeiobermeister Jakubick, Revierleiter Burg, ich habe die Meldung erstattet und das hier alles gefunden.“, dabei wies er mit einer vagen Handbewegung zum Haus und weiter über das Grundstück.
„Nun kommt endlich“, drängte Fred Bittner die anderen.
Er ging mit Werner Metag voran, dabei die Spur durch den hohen Schnee verbreiternd, damit die Rettungskräfte besser hindurch kamen. Jakubick hatte ihnen geholfen die Trage mit Notfallkoffer und mehreren Decken bis zum Hoftor zu bugsieren. Auf dem Weg zum Haus gab Fred seinem Chef einen kurzen Bericht: „Wegen des Schneetreibens in der Nacht waren heute früh alle verfügbaren Einsatzkräfte von Polizei, Freiwilliger Feuerwehr, Mitarbeiter der Gemeinde und Mitglieder vom Verein der Kahnfährleute zu den entlegenen Gehöften unterwegs, von denen bekannt war, dass dort alleinstehende, ältere oder hilfsbedürftige Menschen leben, um nach dem Rechten zu sehen und Hilfe zu leisten, wo es Not tat. Die Gemeinde hat da extra einen Einsatzplan für solche Fälle und der funktioniert sogar. Hierher, zu den Kaupen war der Revierleiter Martin Jakubick eingeteilt, weil er den kürzesten Anfahrweg, von immer noch 6 Kilometern, hatte.“
Schon beim Abzweig vom Kaupenweg zum Gehöft der Muschacks, ahnte Martin Jakubick, dass etwas nicht in Ordnung war. Aus dem Schornstein stieg kein Rauch. War Muschackowa Marja, dem Muschack Seine, wie er Maria Muschack aus Tradition in sorbisch nannte, etwa nicht zu Hause? Aber wo sollte sie sonst sein?
Die zierliche Marja lebte ganz allein auf dem von ihren Eltern geerbten Hof und hielt ihn in Schuß, seit ihre Tochter, die Therese oder sorbisch Rejzka genannt, in der Wendezeit nach Berlin zur Ausbildung gegangen war. Bald darauf zog es Rejzka irgendwo weit in den Westen zum Arbeiten und der Kontakt zu ihr brach wegen eines Streites mit dem Vater ab. Marjas Mann, der Muschack Jurij lebte seit August 89 mit seiner damaligen Geliebten zusammen. Im Sommer 1990 waren die beiden in seinem protzigen nagelneuen BMW im Vollrausch in die Hauptspree gerast und ertrunken. Kaufangebote für das Grundstück, die es immer wieder mal gab, wies Muschackowa Marja stets entschieden zurück. Genauso wie sie das Angebot von diesem komischen Typen aus der Gegend um Berlin abwies, der seit ein paar Jahren jeden Sommer auftauchte, und mit der Marja (auf die er wohl auch ein Auge geworfen hatte) eine Ziegenzucht aufbauen wollte. Das wußten alle in Burg. Soviel auch im Dorf über alles getratscht wurde, über Muschackowa Marja gab es seit dem Tod ihres Mannes einfach nichts besonderes zu erzählen.
In der Marktsaison kam sie einmal in der Woche ins Dorf zum Wochenmarkt, um die Erzeugnisse ihres Gartens, meist Kräuter und Blumen, aber auch Eier, Gurken, Tomaten und was sie sonst noch über den eigenen Bedarf hinaus hatte, zu verkaufen. Den langen beschwerlichen Weg fuhr sie immer mit dem Fahrrad, mit dem schon ihre Mutter gefahren war. Auf dem Gepäckständer den hohen Weidenkorb mit dem Gemüse und am Lenker auf jeder Seite kleinere Körbe mit den Eiern und Blumen, balancierte sie wie eh und je die fast 10 Kilometer zum Markt. Meist trug sie die typische Burger Arbeitstracht, einen dunklen weiten Rock mit einer schlichten Borte am Saum über einigen Unterröcken, darüber eine Schürze in Blaudruck und eine Blaudruckbluse, dazu meist ein Kopftuch mit dem gleichen Muster. Der Blaudruck war heute ein seltenes Kunsthandwerk und die Stoffe waren entsprechend teuer. Muschackowas Sachen waren schon wenigstens eine Generation alt, solide aus Leinen und haltbar. ‚Das ist nur noch bei wenigen Burgern üblich,’ dachte Jakubick ‚dass sie in allem so traditionell sind wie Muschacks. Liegt vielleicht auch daran, dass sie als Katholiken besonders am Alten hängen.’
Auf dem Markt oder auch, wenn sie aufs Amt mußte, sprach die Muschackowa nur das mit den anderen Frauen, was die Höflichkeit gebot. Die Burger wußten ja, dass die Muschack-Frauen immer sehr still und scheu waren. Früher sprachen sie ausschließlich sorbisch, erst Marjas Mutter hatte in der Schule deutsch gelernt. Marja und Rejzka hatten natürlich in der Öffentlichkeit deutsch gesprochen, zu Hause blieb es beim Sorbischen.
Die Nachbarin Elfriede Bleschke, eine der aktivsten Frauen im Heimat- und Trachtenverein und ehemalige Vorsitzende der DFD-Ortsgruppe Burg, besuchte die einsame Marja regelmäßig, weil sie ein mütterliches Verantwortungsgefühl der nur fünf Jahre Jüngeren gegenüber entwickelt hatte. Zu den Veranstaltungen des Heimatvereins holt sie Marja meist ab, obwohl diese sich immer dagegen sträubte. Gegenüber der resoluten Elfriede konnte sich die einen Kopf kleinere und sicher nur halb so schwere Marja nie durchsetzen. So zog Marja stets still und zurückhaltend bei den Umzügen des Heimatvereins in ihrer sorbischen Festtagskleidung mit. Diese Festtracht, die schon ihre Großmutter zur Hochzeit getragen hatte, war ein besonders schönes und seltenes Exemplar. Der weite grüne Rock, den nur die verheirateten Frauen tragen durften, war mit einer breiten Seidenborte geschmückt. Die strahlend bunten Blumen auf dieser Borte hatte die Urgroßmutter selbst zu dieser Hochzeit gestickt. Auch alle anderen Stickereien am Cypjel, dem Schultertuch, und auf der Lapa, der Haube waren Handarbeit. Die Burger Lapa war die größte im ganzen Spreewald. Sie wurde aufwändig aus einem großen bestickten und mit Spitze gefassten Tuch gefaltet und über ein Gestell aus Pappe gesteckt. Dabei wurden eine Menge Stecknadeln und viel Zeit gebraucht. Von den über vierzig Stecknadeln, welche die Lapa und die anderen Trachtenteile in Form hielten, waren am Abend beim Ausziehen immer etliche verschwunden. Die Frauenplätze in den alten sorbisch-wendischen Kirchen wurden von Archäologen anhand der dort gehäuft zu findenden Stecknadeln identifiziert.
Auf das Muschack-Grundstück kamen nur noch selten Leute, im Herbst brachten einige Ziegenhalter ihre Zicken zum Belegen, denn Muschackowa Marjas Ziegenbock Matej war ein Prachtstück und hatte schon fleißig für Nachwuchs gesorgt. Hier auf dem abgelegenen Kaupen war der Bockgestank kein Grund für einen Nachbarschaftsstreit, nur dafür, dass der Stall ungewöhnlich weit und abseits vom Haus gebaut war und freiwillig außer Marja keiner dort hin ging. Die Versorgung des Ziegenbockes war schon immer Marjas Arbeit gewesen, bei ihr blieb er auch in der Paarungszeit friedlich. Jurij, Marjas verunglückter Mann, hatte immer einen Bogen um Stall und Bock gemacht. Er wollte mit dem Stinker nichts zu tun haben. ‘Eigentlich wollte der mit Arbeit insgesamt möglichst nichts zu tun haben’, dachte Jakubick gerade, als er in Gedanken die ihm bekannten Fakten über die Muschacks ordnete.
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