Max und Leonardo plauderten ein wenig über den Lauf der Welt, die Kapriolen der italienischen Politik und die wichtigsten Ereignisse aus ihrem eigenen Leben, die sich seit ihrem letzten Treffen ereignet hatten. Max erzählte, dass er nicht mehr bei der Zeitung angestellt sei und nun als freier Journalist arbeite. Und dass er einen Auftrag für eine längere Reportage zum Thema Oliven und Olivenöl erhalten habe.
„Vielleicht kannst du mir bei meiner Recherche etwas weiterhelfen. Ich verstehe nicht viel von Oliven oder Olivenöl und suche Kontakt zu Leuten, die mir meine Fragen beantworten können.“
Leonardo nickte. „Was interessiert dich denn besonders?“
„Nun, ich muss mich erst ins Thema einarbeiten,“ erwiderte Max. „Gibt es jemanden hier in der Umgebung, bei dem ich so etwas wie einen ‚Crashkurs Oliven’ absolvieren könnte? Oder gibt es ein Olivengut, das man besuchen kann und wo man sieht, wie Olivenöl hergestellt wird?“
Leonardo nippte an seinem Kaffee und schien kurz nachzudenken.
„Du solltest mit Julia sprechen“, meinte er schließlich. „Sie hat selbst ein sehr schönes Olivengut, einige Kilometer von hier. Seit vor vielen Jahren ihr Mann gestorben ist, führt sie das Landgut alleine. Es ist eines der wenigen hier im Chianti, das nicht primär Wein produziert und Olivenöl nur als Nebenprodukt herstellt. Sie macht ausschließlich Olivenöl und andere Olivenprodukte.“
„Genau, was ich suche!“ rief Max begeistert. „Kannst du mir den Kontakt vermitteln?“
„Sicher. Ich rufe sie nachher an und frage, ob du dich mit ihr treffen kannst. Du wirst sehen, sie ist eine charmante Person. Und ein absoluter Profi in Sachen Oliven und Olivenöl. Viele Restaurants im ganzen Chianti kochen mit ihrem Öl.“
Dann hatte er noch eine andere Anregung für Max.
„Nicht weit von ihrem Gut entfernt liegt die bekannte Fattoria San Vicente, von der du vielleicht schon gehört hast. Das Landgut ist einer der größten Produzenten von Olivenöl in der Toskana. Ihr ‚San Vicente Extra Vergine‘ wird in die ganze Welt exportiert. Sie haben auch eine informative Website, die du dir anschauen solltest.“
Max machte sich ein paar Notizen.
„Das werde ich gleich abklären!“
„Soviel ich weiß“, ergänzte Leonardo, „bieten sie auf San Vicente für Besucher bis zur Olivenernte regelmäßig Führungen durch ihre Olivenhaine und Produktionshallen an.“
Er blickte auf seine Uhr und erhob sich wieder.
„Ich muss im Büro noch einigen Papierkram erledigen. Bitte entschuldige mich. Wir sehen uns später.“
Als Leonardo nach einer knappen Stunde auf die Terrasse zurückkehrte, fand er Max in den Corriere vertieft. Er setzte sich erneut neben ihn an den Frühstückstisch.
„Ich habe Julia erreicht und ihr von dir erzählt“, berichtete er. „Sie ist gerne zu einem Gespräch bereit. Morgen ist sie auf dem Markt. Sie hat dort einen festen Standplatz, gleich bei der Bar Centrale, wo sie ihr Olivenöl und andere Produkte aus ihren Pflanzungen anbietet.“
Er nahm eine Papierserviette vom Tisch und kritzelte eine Telefonnummer darauf.
„Ihre Handynummer. Aber vielleicht schaust du morgen einfach mal bei ihr vorbei! Alles Weitere kannst du dann direkt mit ihr abmachen.“
Der Wochenmarkt des Städtchens Castelnuovo war eine bunte Mischung von Ständen mit Lebensmitteln, Kleidern, Schuhen und allerlei Krimskrams. Ursprünglich war der Markt, den es seit über hundert Jahren gab, nur für Händler und Bauern aus der näheren Umgebung gedacht, die ihre Produkte anbieten wollten. Doch inzwischen ging das Angebot weit über die traditionellen landwirtschaftlichen Produkte hin-aus. Die Mehrzahl der Schuhe, Kleider, Ledersachen und Haushaltgeräte auf den Auslagentischen trug irgendwo die Herkunftsbezeichnung „Made in China“ oder diejenige eines anderen asiatischen Landes. Selbst dort, wo die Produkte stolz das Label „Made in Italy“ präsentierten, konnte man nicht so genau sagen, was denn nun in Italien hergestellt und was importiert und nur leicht „italianisiert“ war, etwa in einem der vielen chinesischen Sweatshops im Umfeld von Florenz oder im Süden des Landes, in denen asiatische Männer und Frauen unter prekären Bedingungen „italienische“ Produkte herstellten. Hinter den Auslagetischen standen neben Albanern und Türkinnen oft auch afrikanische oder asiatische Händler. Sie feilschten mit den Kunden nicht weniger gewieft als ihre italienischen Kollegen. Einzig bei den Lebensmitteln konnte man einigermaßen sicher sein, tatsächlich Produkte aus der näheren Umgebung oder zumindest aus italienischer Produktion zu er-stehen.
Von ihrem kleinen Verkaufsstand aus hatte Julia einen privilegierten Blick auf das morgendliche Marktgeschehen. Die Standplätze gleich gegenüber der Bar Centrale beim Eingangsportal der Kirche waren begehrt. Sie lagen den ganzen Vormittag über im Schatten und waren so vor der selbst im Herbst oft noch großen Hitze geschützt. Und wer zu einem der Dorfausgänge gehen wollte, musste hier vorbeikommen. Wer so einen Marktstandort zugewiesen bekam, behielt ihn meist sein Leben lang und gab ihn schließlich an einen Nachkommen oder anderen Angehörigen weiter.
Auch Julia hatte ihren Marktstandort von ihrem Vater übernehmen können. Als Kind hatte sie ihn jeden Donnerstag auf den Wochenmarkt begleitet. Ihre Mutter war bei ihrer Geburt gestorben. Der Markttag hatte ein wenig Abwechslung in den sonst immer gleichen Ablauf der Tage gebracht. Bevor sie sich auf den Weg zur Schule machte, half sie mit, die Kisten und Säcke mit den Produkten des Olivenguts in den kleinen Ape-Transporter ihres Vaters zu beladen. Zuerst wurden die Ölkanister und die abgefüllten Flaschen mit Olivenöl sowie die Schalen mit den anderen Produkten des Olivenguts eingeladen. Ganz oben auf dem Berg von Kisten und Schachteln kam der zusammengeklappte Verkaufstisch und ein Sonnenschirm zu liegen. Ein weißes, dicht gewobenes und mit Bienenwachs getränktes Tuch diente als Sonnenschutz für die geladenen Produkte und kam zusammengefaltet über die abenteuerlich hohen Stapel von Kisten zu liegen. Zwei dicke und kraftvoll festgezurrte Hanfseile sicherten die Ladung.
Auf dem Markt half sie ihrem Vater beim Aufbau des Verkaufsstandes. Meist benötigte das ziemlich viel Zeit, so dass sie nachher ins Schulhaus rennen musste und nicht selten zu spät im Klassenzimmer ankam. Kaum verkündete die Schulglocke mittags das Ende des Unterrichts, rannte sie die Straße zum Markt wieder hinauf und half beim Abbau des Standes. Dann drückte sie sich neben ihrem Vater in die kleine Fahrerkabine des Ape, und gemeinsam tuckerten sie zurück nach Hause.
Das lag nun schon lange Zeit zurück. Ihr Vater war vor vielen Jahren gestorben. Sie hatte als einziger Nachkomme das Olivengut geerbt und so auch den Standplatz am Markt übernommen. Kurz nach dem Tod ihres Vaters hatte sie geheiratet, einen Burschen aus Siena, in den sie sich bei einem der Cantrade-Feste verliebt hatte. Ihr Mann entpuppte sich leider rasch als arbeitsscheuer Bonvivant, der mehr Zeit mit seinen Kumpanen in der Stadt als bei der Arbeit auf dem Olivengut verbrachte. Das verstärkte sich noch, als sich herausstellte, dass sie keine Kinder bekommen konnte. Er zeigte ihr bei jeder Gelegenheit, wie nutzlos er sie fand.
An einem kalten Winternachmittag überbrachte ihr der Dorfpolizist Mario die Meldung, ihr Mann sei bei einer Schlägerei in einer Spelunken in Siena so unglücklich gestürzt, dass er sich das Genick gebrochen habe. Sie hüllte sich für ein Jahr in dunkle Kleider, wie der Brauch es verlangte, doch Trauer verspürte sie keine. Sie fühlte sich eher erleichtert. Nun konnte sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen und musste mit ihrer Arbeit nicht noch einen Taugenichts von Ehemann mit durchfuttern.
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