„Wir sollten uns in nächster Zeit etwas zurückhalten“, sagte Don Felice nach langem Schweigen. Sein Dialekt wies ihn unverkennbar als Ur-Toscano aus. Er hielt einen Stapel zusammengehefteter Dokumente in der einen Hand. Seine randlose Brille hatte er auf die Stirn geschoben, während er mit dem Zeigefinger der anderen Hand einer lange Zahlenkolonne auf einem der Papiere entlangfuhr.
„Ich habe kein gutes Gefühl“, ergänzte er, mehr zu sich selbst als an seinen Gesprächspartner gerichtet. „Solange die Brennerachse so intensiv kontrolliert wird, ist mir das Risiko einfach zu groß.“
Carrera starrte auf die vor ihm auf dem Tisch liegenden Papiere und sagte eine Weile nichts. Er legte missmutig die Stirn in Falten und presste die Lippen zu einem Strich zusammen.
„Scheiß-EU“, murmelte er schließlich vor sich hin. „Bevor wir den Schengenraum hatten, war es einfacher, trotz der vielen Grenzkontrollen. Man wusste, wer wann wo kontrollierte, und konnte entsprechend handeln.“
„Mag sein. Aber wir müssen uns den veränderten Rahmenbedingungen anpassen. Wir dürfen kein Risiko mehr eingehen.“
Don Felice drehte sich wieder zum Fenster und schien in die Nacht hinaus zu starren. Zwar vermochte er im nachtschwarzen Gelände aus dem hell erleuchteten Zimmer heraus nichts zu erkennen, doch im Spiegelbild des Fensterglases konnte er Carrera am Tisch beobachten.
„Es steht diesmal zu viel auf dem Spiel“, fuhr er fort, ohne sich umzudrehen. „Zuerst müssen wir mehr über die Absichten der neuen Regierung wissen. Wenn wir uns geschickt positionieren, könnten wir vom politischen Chaos sogar profitieren. Ich will kein Risiko mehr. Mein Ruf und derjenige von San Vicente stehen auf dem Spiel. Wir warten ab, bis wir sehen, woher der Wind weht.“
Der Kalabrese drehte kaum merklich den Kopf und blickte mit seinen Knopfaugen kurz zu Don Felice hinüber. Hätte dieser inzwischen nicht wieder in seinen Papieren geblättert, sondern den Blick des Kalabresen aufgefangen, hätte ihn der kurze Blickkontakt vielleicht gewarnt. Er hätte aus dem abschätzigen Blick lesen können, was der Kalabrese in diesem Moment dachte: Dass Don Felice offensichtlich schwach wurde. Dass er Probleme zwar erkannte, sie aber nicht mehr zu lösen vermochte. Und dass er aus Sicht der Organisation wohl nicht mehr vertrauenswürdig war.
Jetzt stand auch der Kalabrese auf und massierte sich mit einem leisen Stöhnen den vom langen Sitzen schmerzenden Rücken. Mit hinter dem Kopf verschränkten Händen machte Carrera ein paar Dehnungsübungen, bei denen seine Gelenke vernehmlich knackten.
„Mach dir nicht in die Hosen. Wir warten nicht mehr länger“, sagte er schließlich in einem herrischen Ton. „Wir müssen endlich wieder liefern. Unsere Abnehmer werden ungeduldig. Wir haben schon die letzten beiden Lieferungen zurückgehalten. Die Tanks sind voll.“
Er setzte sich wieder an den Tisch und schlug mit der geballten Faust auf die Tischplatte.
„Schluss mit der Diskussion. Wir erwarten heute Nacht die nächste Lieferung. Und wir werden sie so rasch wie möglich verarbeiten und weiterleiten. So wie es abgemacht war.“
Sie wussten beide, wie sich trotz Schengenraum die Risiken der Zoll- und Finanzkontrollen verändert hatten. In den letzten paar Wochen war kaum ein Lastwagen mehr unkontrolliert von Italien nach Deutschland gekommen. Natürlich fahndeten die Trupps der Grenzpolizei in erster Linie nach Migranten, die auf der Südroute durch Italien nach Deutschland zu gelangen versuchten. Tanklastwagen waren in dieser Hinsicht weniger verdächtig als geschlossene Großtransporter oder Aufleger mit Containern, da sich hier Migranten kaum verstecken konnten. Dennoch waren zuletzt gleich mehrere Transporte aus San Vicente in Österreich, einmal sogar in Deutschland gestoppt und kontrolliert worden. In einem Fall hatten die Beamten Stichproben der Ladung entnommen. Es hatte einiges an finanziellem und intellektuellem Aufwand gebraucht, um die in einem der Zolldepots gelagerten Proben zu finden und auszutauschen, ehe sie an ein Labor der Grenzbehörden weitergeleitet wurden. Natürlich verfügte die Organisation über exzellente Verbindungen. Doch auch das würde im aktuellen aufgeheizten Klima nicht mehr helfen. Sie mussten in der nächsten Zeit vorsichtiger sein. Don Felice verstand nicht, warum die Organisation, vertreten durch diesen massigen Kalabresen Carrera, das nicht begreifen wollte.
Er blickte zum Schreibtisch neben dem Sitzungstisch hin-über. Auf einem der drei großen Monitore war eine Karte Italiens zu sehen. Irgendwo südlich von Rom blinkte ein kleiner Punkt auf einer rot markierten Linie, welche die Autostrada anzeigte und den Bildschirm vom unteren bis zum oberen Rand, also von Kalabrien bis zur Lombardei, durchzog.
Carrera warf ebenfalls einen kurzen Blick auf den Bild-schirm.
„Schon wieder verspätet“, meinte er brummig. „Sie werden erst weit nach Mitternacht hier sein. Morgen früh müssen wir mischen und abfüllen. Wir können die Lieferung höchstens noch für weitere vierundzwanzig Stunden zurückhalten. Schon das wird uns ziemlich Geld kosten. Du kennst die Konventionalstrafen, die wir akzeptiert haben.“
Erneut streifte er mit einem kurzen Blick Don Felice, der nun vor der raumhohen Glastür zur Terrasse stand, die Hände tief in den Taschen seiner Anzugshose vergraben.
Carreras Stimme bekam einen drohenden Unterton.
„Versuche nicht, uns Steine in den Weg zu legen! Risiken gehören zum Geschäft. Wir haben sie immer großzügig abgegolten. Es bleibt, wie wir es vereinbart haben.“
Don Felice drehte sich um und blickte zu Carrera. Auch sei-ne Stimme wurde noch eine Spur bestimmter. „Die Risiken werden mir zu groß. San Vicente ist seit fünf Generationen Stammhaus meiner Familie. Ich bin euch weit entgegengekommen. Doch so kann und wird es nicht weitergehen.“
Carreras Gesicht war ausdruckslos, als er Don Felices Blick erwiderte.
„Halte dich an unsere Abmachungen!“, erwiderte er mit unüberhörbarer Schärfe. „Du hast unser Geld immer gerne genommen. Ohne den Vertrag und den Kredit wäre San Vicente pleite und der Ruf deiner Familie längst ruiniert.“
Don Felice war sich durchaus bewusst, dass sein grosser geschäftlicher Erfolg in den vergangenen Jahren weniger seinen unternehmerischen Fähigkeiten als der Zusammenarbeit mit der Organisation zu verdanken war. Mit deren Kapital hatte er sein Landgut und seine gesellschaftliche Position über all die Jahre hinweg halten können. Doch inzwischen hatte er sich neue Kapitalquellen erschließen können. Anders als noch vor einigen Jahren war er auf das Geld der Organisation nicht mehr angewiesen.
Er drehte sich um und blickte Carrera direkt an.
„Ich werde den Kredit zurückzahlen. Damit wird unser Vertrag hinfällig. Die Details besprechen wir in den nächsten Tagen.“
Carreras Miene blieb ausdruckslos. Überrascht war er nicht. Er vermutete seit geraumer Zeit, dass Don Felice beabsichtigte, sich aus der Zusammenarbeit zurückzuziehen. Über sein weitverzweigtes Netzwerk hatte der Verwalter ins-geheim verfolgt, wie der Gutsbesitzer begonnen hatte, sich nach alternativen Finanzierungsquellen umzusehen. Offenbar hatte er inzwischen welche gefunden und glaubte, ihn und die Organisation damit loswerden zu können.
Ob so viel Naivität konnte er nur den Kopf schütteln. Seine Stimme war leise, aber schneidend, als er auf Don Felices Ankündigung antwortete.
„Du scheinst trotz unserer langjährigen und erfolgreichen Zusammenarbeit etwas Fundamentales nicht zu verstehen. Die Verträge mit uns werden nicht gekündigt. Niemals. Und von niemandem. Das brauche ich wohl nicht weiter auszuführen.“
Don Felice sah Carrera wortlos an. Dann griff er nach sei-ner Aktenmappe.
„Ich denke, dass wir uns schon einigen werden. Wir können heute ohnehin nichts mehr machen“, beendete er das Gespräch. „Ich lege mich ein paar Stunden aufs Ohr. Wir werden später entscheiden, wie wir weiter vorgehen.“
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