„Booah! Schau dir das an, Zwurzel! Der alte Zwickalum hat eine wunderschöne Karte gezeichnet.“ „Kannst du erkennen, wo wir gerade sind ?“ fragte Zwurzel. „Lass mich überlegen. Ah, siehst du die kleine Lichtung? Ja, genau da sind wir.“ Zweckel zeigte auf einen kleinen grünen Fleck auf der Karte. Zwickalum hatte die Landkarte wirklich mit Liebe zum Detail gezeichnet. Alles war erkennbar, jeder größere Baum, sogar die Dornenhecke am Waldesrand war vermerkt. Es war ein sehr schönes Meisterwerk und eine große Aufgabe, dieses weiterzuführen. Aber vielleicht brauchte Zweckel ja gar nicht weiterzeichnen. Er hoffte inständig nur bis zum gestrigen Punkt gehen zu müssen, und dort vielleicht die Antwort zu finden.
Da sprang Zwurzel plötzlich auf. „Autsch! Ah! Liiih!“ Er sprang wie ein Verrückter vor Zweckel hin und her und klopfte sich dabei auf den Hosenboden. „Verzwiebeliteinsnochmal! Was zwickt und zwackt mich denn da bloß? Und wie das piekst. Mein Popo! Auaaa!“ Schnell fiel Zweckels Blick auf den Platz neben ihn, und da tummelten sich tausende von klitzekleinen Brennmeinselen.
Brennmeinselen sind winzige Insekten, die alles piksen, was ihnen im Weg steht. Sie haben kleine Hörner an ihren Nasen und versuchen alles aufzuspießen, was ihnen im Weg ist. Egal wie schwer oder wie groß. So hingen viele dieser Brennmeinselen mit ihrer Nase an Zwurzels Po fest. „Halt still! Bleib stehen, sonst kann ich dir doch nicht helfen.“ Versuchte Zweckel zwischen seinen Lachanfällen Zwurzel zu beruhigen.
Endlich blieb der Gestochene vor Zweckel stehen, und dieser zupfte dem armen Freund die kleinen Brennmeinselen vom Po. Zwurzel hatte sich genau inmitten einer Brennmeinselen Arbeitstruppe gesetzt. Die klitzekleinen Brennmeinselnenarbeitsgruppe waren unterwegs zu ihrer Baustelle. Und der Po vom Zwurzel saß ihnen im Weg. Also wurde er aufgepikst. Von dem Ersten, dem Zweiten, dem Dritten und bis fast alle sich angepikst hatten. Somit hatte Zweckel mächtig viele rauszuziehen.
Als der letzte der kleinen Pikser rausgezogen war, rannte Zwurzel schnell zu einem kleinen Bach, der am Waldesrand floss, und kühlte seinen gepiksten Po im kalten Flusswasser ab. Ein wohliges „Oh!“ kam über seine Lippen. Und Zweckel? Dem rannen die Tränen vor Lachen über die Wangen. Es war aber auch ein zu lustiges Bild gewesen, der hüpfende Zwackelpopo!
Nachdem sich alles wieder beruhigt hatte, schnallten die Zwei ihr Gepäck wieder auf und machten sich weiter auf den Weg. Aber auch im nächsten Ort wusste keiner etwas über dieses Dingsda zu sagen. Und auf dem Weg fanden sie auch keinerlei Hinweise. So kamen sie etwas müde und leicht enttäuscht in Angelnau an.
Angelnau war ja bekanntlich eines der letzten Dörfer im Wichtland. Und sehr viel weiter im südlichen Gebiet war bis dahin noch nie ein Wicht gewandert. Komische Geschichten machten sich über die äußersten Randdörfer breit. Und das Ende von Wichtland war für die Wichte einfach auch das Ende ihrer Welt. Denn Wichte verlassen in der Regel nicht gerne für längere Zeit ihr Zuhause. Sie gehen nur, wenn es unvermeidlich ist, auf Wanderschaft! Nur ganz, ganz wenige, so wie der alte Zwickalum, oder jetzt unsere beiden Freunde Zweckel und Zwurzel, hatten die nötige Neugier und Abenteuerlust, ein wenig auf unbekannten Wegen zu wandern und Neues zu entdecken! Daher gab es auch nur sehr, sehr wenige Überlieferungen darüber, was sich außerhalb von Wichtenland befand.
Eigentlich gab es nur eine einzige Überlieferung, und die lautete:
Tiefer Abgrund! Mehr nicht. Nur diese zwei Wörter: Tiefer Abgrund!
Und diese Worte waren schon älter als der alte Zwickalum. Keiner wusste so genau, wer sie in das große Buch des Dorfes auf die erste Seite hingeschrieben hatte. Aber dort standen sie als Antwort auf die Frage: ‚Was erwartet uns außerhalb Wichtenland?’ ‚Tiefer Abgrund!’
Daher war bis heute kein Wicht mehr bis ans äußerste Ende des Wichtenlandes vorgedrungen. Sogar der alte Zwickalum nicht. Er erzählte einst, dass er wohl von Weitem ein Blick auf den Abgrund erhascht hätte, aber Zweckel fragte sich immer wieder, wie er denn einen Abgrund sehen konnte, wenn er nicht hinuntergeschaut hat. Naja, laut Zwickalum sah er damals einfach einen Weg ins Nichts verschwinden, so wie auch die nebenliegende Wiese. Es schien wohl so, als hätte man sie abgeschnitten. Weggewischt, ausradiert, wischiwaschweg. Zweckel wollte schon seit dem ersten Mal, als er von diesem tiefen Abgrund gehört hatte, diesen mit seinen eigenen Augen sehen.
Angefacht von der neu erweckten Entdeckerlust, wurden Zweckels Schritte direkt größer. Die Nachmittagssonne schien auf den Marktplatz. Einige Angelnauer liefen geschäftig umher. Zwurzel fragte: „Und nun? Kennst du hier einen der Ältesten? Wo sollen wir hin? Und außerdem, ich weiß zwar nicht, wie es dir geht, aber ich hab Hunger, und könnte eine warme Mahlzeit vertragen!“ „Ja, das ist eine gute Idee, lass uns da vorne in die Schänke gehen. Dort erfahren wir vielleicht auch, wer uns am ehesten etwas über dieses Dingsda verraten kann.“ So marschierten die beiden Wichte zur Schänke. Draußen schnallten sie ihr Gepäck ab, und lehnten es zu den anderen Gepäckstücken an die Wand.
In ganz Wichtenland war es üblich, Gepäck draußen vor der Schänke zu lassen. So nahm es drinnen keinen Platz weg, oder wurde gar zur Stolperfalle. Und Angst davor, dass es abhanden, bzw. gestohlen werden könnte, hatte in Wichtenland auch niemand. Es wurde einfach nicht gestohlen. Wenn überhaupt, dann wurde nur etwas ausgeliehen, oder getauscht. Man hinterließ einen kleinen Zettel mit einer Nachricht, wo der mitgenommene oder getauschte Gegenstand sich jetzt befand.
Manchmal ließen die Wichte einen Ersatz da. Wenn der frühere Besitzer mit dem Tausch nicht einverstanden war, konnte er sich seinen Gegenstand wieder zurückholen. Oder ein Wicht sah vielleicht eine Axt an einer Häuserwand lehnen, die er gerade benötigte. Er nahm sie mit, hinterließ einfach einen Zettel, auf dem dann stand, wann er den Gegenstand wieder zurückbringen würde, zusätzlich aber auch, wo er sich gerade befand. Dieses war eine Lebensweise, mit der ein jeder Wicht aufgewachsen war. Er kannte es nicht anders. Und in der Regel verliefen diese Tausch-/Ausleihaktionen auch für alle zufriedenstellend ab. Natürlich gab es manchmal ein paar kleine Streitereien, aber solche Fälle wurden direkt in einer Schlichtungsstelle geklärt.
Zweckel und Zwurzel betraten die Schänke. Viele Wichte hatten sich schon zu einem gemütlichen warmen Tee eingefunden. Zweckel ging an die Theke und sprach den Wichtenwirt an. „Seid gegrüßt, Herr Wirt! Mein Freund und ich hier haben einen großen Hunger. Könnt ihr uns etwas Warmes bringen?“ „So dänne, Herr Wicht! Erst einmal sagt mir doch, woher ihr kommt und wer ihr seid! Wir in Angelnau schätzen eine gute Geschichte doch sehr. Hier unten im tiefsten Süden von Wichtenland bekommen wir nur selten Fremde zu Gesicht. Und wenn uns gefällt, was ihr zu erzählen habt, dann wollen wir euch auch großzügig bewirten. Also, einen Grog zum Anstoßen. Hier! Meine neuen Freunde, ich bin Angetom! Und heiße euch herzlichst in Angelnau willkommen!“ Mit diesen Worten verteilte er Grogbecher an die zwei Freunde.
„Ja, das ist doch einmal ein famoses Angebot, welches wir dankend annehmen, Herr Angetom. Nicht wahr, Zwurzel?“ drehte er sich fragend zu seinem Freund um. „Ah, wie unhöflich von mir. Das hier ist mein Freund Zwurzel, und ich bin der Zweckel. Wir kommen aus dem Dorf Zwiebeltun. Einen halben Tagesmarsch von hier entfernt. Und nun erst einmal ein Powosit, Herr Angetom! Und dann wollen wir erzählen, warum wir überhaupt unterwegs sind. Powosit!“ mit diesen Worten erhob Zweckel seinen Becher. Ein lautes ‚Powosit’ kam von allen Seiten zurück.
„Oh, welch ein feines Gebräu ihr da habt Herr Angetom! Aber nun zu unserer Geschichte.“, und so fing Zweckel an zu erzählen, wo er das Dingsda gefunden und Zwurzel ihn nach dem Namen gefragt hatte. Ihre vergebene Mühe im Dorf etwas darüber zu erfahren und wie der Weg sie nach Angelnau geführt hatte. Am Ende angelangt, forderte Zweckel alle auf: „Und nun, meine neuen Freunde, bitte ich euch, kommt mit hinaus, und schaut euch das Dingsda an! Vielleicht fällt euch ja etwas dazu ein.“ Alle Wichte aus der Schänke folgten den zwei jungen Wichten nach draußen. Zweckel packte das Dingsda aus und präsentierte es voller Stolz. Ein lautes Gemurmel war zu hören. Jeder hatte etwas dazu zu sagen, jedoch wusste keiner wirklich, was mit diesem Dingsda anzufangen. „Ich habe eine Idee! Geht doch einmal zu dem kauzigen Angitor vorbei. Er wohnt ganz am Ende hinter dem Fluss. Ein komischer Kauz, der recht zurückgezogen lebt. Wir im Dorf bekommen ihn nicht häufig zu sehen. Er ist schon ziemlich alt. Und ist auch schon weit umhergereist. Manche behaupten sogar, er hätte schon einmal in die Tiefe des Abgrundes geblickt!“ Diesen letzten Satz flüsterte Angetom nur noch. Das Gemurmel um sie herum war verstummt. Alle hielten den Atem an. Tiefer Abgrund!
Читать дальше