Sehr erfrischend, wenn auch ordentlich gewöhnungsbedürftig ist, dass hier Punkt sechs Uhr alle Läden geschlossen werden und sich die Straßen wie auf Kommando leeren. Ein belegtes Brötchen oder ein Gespräch ist plötzlich äußerst schwer zu bekommen, auch am Bahnhof, wo der Bäcker sogar schon zwei Stunden vor dem allgemeinen Zapfenstreich schließt. Und wo es – ein wichtiger Hinweis für Besucher – ganztags keine Toiletten gibt.
Wer sich aber nach der in Aschersleben eben in vielfacher Sicht anders tickenden Zeit richtet und sich in den Stunden zuvor auf den bereitwillig angebotenen Tratsch im Café, den überschaubaren Wochenmarkt und das sehr bemühte, aber eben doch zutiefst provinzielle Sammelsurium des Kriminalpanoptikums einlassen kann, der hat ganz bestimmt eine schöne, ruhige Zeit in einem sehr atmosphärischen Aschersleben.
Traurig nur, dass die vielfach heraufbeschworenen „Leute draußen im Land“ von Aschersleben so gar keine Notiz nehmen. Ja, die Stadt an der Eine wirkt geradezu überflüssig: Als Wiege der einst mächtigen Askanier gehörte Aschersleben schon seit 1315 nicht mehr zu deren anhaltischen Herrschaftsgebiet. Als geografisches Tor zum Harz ist die Stadt an den weitestgehend flachen Salzlandkreis gebunden, der auch noch vom in jeder Hinsicht fernen Bernburg dominiert wird. Wenn nicht – ausgerechnet! – die Polizeihochschule des Landes hier läge, könnte die älteste und wenigstens drittschönste Stadt des Landes glatt vollkommen unbemerkt aus der Welt fallen.
Im Süden Sachsen-Anhalts hört die Welt genau an dieser Stelle gleich hinter Naumburg auf. Freyburg gehört noch ein bisschen dazu, wegen der Rotkäppchen Sektkellerei und der mindestens ebenso berühmten Neuenburg. Nebra vielleicht auch, weil dort die allseits bekannte Himmelsscheibe geborgen wurde. Aber dann hört die Welt hier wirklich endgültig auf. Mitten in der Verwaltungsgemeinde An der Finne.
Die Finne, das ist ein kleines Stück Hügel zwischen anderen Hügeln, hinter denen im Westen gleich Thüringen liegt. Diesseits davon erstreckt sich der Burgenlandkreis als südlicher Zipfel von Sachsen-Anhalt bis an das Leipziger Land heran. Im Burgenlandkreis leben mehr Menschen als in der doppelt so großen Altmark im Norden. Es gibt hier Städte von immerhin einigem Rang wie Weißenfels, Naumburg oder Zeitz. Aber von der Finne aus sind sie alle gleich weit weg und aus der Welt – also in der Welt –, hier heißt die größte Stadt Bab Bibra und bringt etwa 2.000 Einwohner auf die Waage. Mehr ein Dorf also.
Bad Bibra, zwischen den Gemeinden Kaiserpfalz und An der Poststraße gelegen, ist Sitz der Verwaltungsgemeinde. Diese sitzt in einer Bahnhofstraße ohne Bahnhof, denn die Deutsche Bahn kommt nur bis nach Eckartsberga, der zweiten Stadt in der Verbandsgemeinde, und die Burgenlandbahn macht in Nebra Halt. Oder in Laucha. Aber eben nicht in Bad Bibra.
Und so bleibt ausgerechnet die Metropole in der Verbandsgemeinde ohne geschienten Verkehrsanschluss. Nur ein paar Busse pendeln. Entsprechend ruhig ist es in der Stadt, die sich aufs Kneippen versteht. Und äußerst beschaulich: Die Stadtteile Altenroda, Golzen und Thalwinkel liegen irgendwo außerhalb, versteckt im hügeligen Umland, und selbst Bad Bibras Kernteile Kalbitz, Steinbach und Wallroda sind auf fünfzig Quadratkilometer Feld und Wiesen verteilt zu suchen. Bad Bibra kann also gar nicht anders als ländlich daherkommen (der größte Arbeitgeber ist – wie passend – eine Molkerei).
Stadtteil Wallroda zum Beispiel. Hat einen Dorfplatz mit alten Gehöften darum. Eine Dorfkirche mit vier Gräber – nein, hier lebt es sich nicht so gesund, dass kaum jemand stirbt. Hier leben nur noch so wenige. Die letzten Bewohner sitzen mit Bier und Tussi in einer Garageneinfahrt, beneidenswert braungebrannt vom Alltag halbnackt. Man ist ja unter sich.
Und so sieht der Stadtteil aus: Mancher Hof ist in Schuss, bei vielen anderen wächst Moos auf dem Dach, ist das Tor nur noch ein Stück Rost. Solche Gehöfte gibt es hier schon für wenige tausend Euro zu haben, nebst mehrere tausend Quadratmeter Garten, in dem die Brennnessel meterhoch wuchert.
Inmitten dieses Wildwuchs steht auch eine Bushaltestelle. Morgens kommt der Schulbus, nachmittags auch.
Für diese paar Minuten, in denen der Bus hält, gehört Wallroda tatsächlich zu Bad Bibra, ist Stadtteil in Randlage. Den Rest des Tages aber ist es, was es schon immer war: ein Dorf hinterm Ende der Welt.
Bad Dürrenberg hat ein Gradierwerk und sonst nichts. Das ist traurig, aber nicht zu sehr, denn andere Städte im Umkreis – nennen wir Leuna – haben noch weniger, also gar nichts.
An den üblichen Wochenenden lässt es sich in aller Ruhe durch „Dörrnberch“ schlendern, entlang der Saale vielleicht oder durch den höher gelegenen Kurpark. Im Restaurant Altes Badehaus prangen Audrey Hepburn und Kollegen nicht ganz stilecht neben ländlichen Küchengeräten an einer Wand, deren Farbe mit dem Kupferglanz der Tiegel und Backformen dafür umso mehr harmoniert. Dass hier insgesamt eher Landidylle als Hollywood vorherrscht, beweist die Kellnerin, die duzend und mit mütterlichem Wohlwollen serviert. Aber die Mütterlichkeit kommt von keiner lieben, guten Matrone, sondern von einer teilnahmslosen Servicekraft mit kaltem Aschegeruch. Und es gibt hier auch nur wenig Kuchen, noch weniger Gäste, trotzdem die Kellnerin versichert, dass welche da seien. Nur eben gerade zur Kaffeezeit nicht im Café. Man spaziere wohl lieber durch die Kuranlage, die sich aber auch als menschenleer erweist, wenngleich das hier nicht stört.
Zum Glück hat ja Bad Dürrenberg sein Gradierwerk! Wo sonst – eben an den üblichen Wochenenden – verträumt gesalzene Luft inhaliert werden kann, findet einmal im Jahr das Brunnenfest statt. Seit 250 Jahren inzwischen. Zum diesjährigen Jubiläum haben sich die Veranstalter etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Eintrittsgelder.
Denn das ist ja ein ganz hässlicher Trend hier im Land: Die Merseburger Schlossfestspiele, das Naumburger Hussiten-Kirschfest, das Querfurter Burgfest, das Bad Lauchstädter Brunnenfest und nun auch das Bad Dürrenberger: Alle Volksfeste in der Region sind plötzlich kostenpflichtig. Um die Qualität der Veranstaltung zu gewährleisten, sagen die Städte und reiben sich die Hände. Und um das Ganze überhaupt zu finanzieren. Zum Beispiel die Kassenhäuschen an den Zugängen zum Kurpark.
Armes Deutschland, wenn Volksfeste schon so flächendeckend zu Volkswirtschaftsfesten werden! Armes Bad Dürrenberg, dass die Fressbuden und – noch schlimmer – die Handtaschen, Herrenschuhe und Fensterreiniger trotzdem Zugang zum qualitätsgesicherten Brunnenfest gefunden haben! Am Gradierwerk stinkt es heute nach Klostein und lackiertem Kunstleder, Plüschhunde wackeln mit dem batteriebetriebenen Kopf. Auch Kittelschürzen gibt es hier zu kaufen.
Aber reißen wir uns zusammen, suchen wir nicht die Nadel im Heuhaufen: Was also hat das Brunnenfest, was hat Bad Dürrenberg heute zu bieten? Einen Aufmarsch der gewesenen Bergarbeiter aus Zielitz bei Magdeburg. Das Dauerwerbeprogramm einer Laienspielgruppe aus Weißenfels. Sächsische Kanoniere aus dem Dreißigjährigen Krieg ohne Kanone. Ritter, die sich ohne Schwerter verhauen. Eine Country-Band.
Und der Brunnen? Und Bad Dürrenberg? Die gibt es heute nicht, auf dem 250. Brunnenfest in Bad Dürrenberg, das ja nur ein Gradierwerk hat und eben nur das (als Kulisse) zum Fest beisteuern kann.
Gerade weil im Harz eigentlich immer schlechtes Wetter ist (fragen Sie mal Joseph Roth danach), weil es hier oft regnet und windet oder die Hexen mal wieder umgehen, sollte man sich gut überlegen, welcher Ort hier wirklich einen Besuch wert ist. Der Brocken, Quedlinburg, Wernigerode – ja. Ballenstedt hingegen ist nicht selten nicht die erste Wahl in einschlägigen Reiseführern.
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