Im Januar 2018 fuhren Matthias und ich wieder nach Kaliningrad. Unterdessen hatte Matthias mit vielen wichtigen Menschen aus Deutschland und den USA Gespräche geführt. Und jetzt schlug die große Stunde von Ludmila. Der „Planungsstab“ traf sich zukünftig in Ludmilas Küche. Ich möchte Sie, verehrte Leserinnen und Leser, nicht mit Details langweilen. Aber könnten Sie sich tatsächlich vorstellen, dass irgendein berühmter Dirigent sich in irgendeine Küche setzt, um dort irgendein Projekt zu beraten?
Das ganze Jahr lang arbeiteten meine Freunde an dem Projekt. Gemeinsam mit vielen anderen fleißigen Helfern waren sie am Ende erfolgreich.
Wer hätte das vor einem Jahr ahnen können? Heute, am 27. Januar 2019, ist der Kaliningrader Dom für die Weltpremiere der „Nacht der Erinnerung an die Opfer des Holocausts“ bis auf den letzten Platz gefüllt.
Was für eine gefühlvolle Stimme, mit der die berühmte Sängerin Tamara Gwerdziteli die bewegenden Texte von Elie Wiesel vorträgt. Der New Yorker Tenor Daniel Mutlu sitzt fast regungslos vor dem Orchester auf der Bühne. Jetzt unterbricht Tamara Gwerdziteli die Lesung und Daniel Mutlu tritt ans Mikrophon. Ein himmlischer Gesang erfüllt den Dom.
Es ist nicht nur Daniel Mutlu: Der staatliche Chor „Vilnius“ aus Litauen, die Moskauer Jüdische-Männer-Kapelle, der Chor des Kaliningrader Musiktheaters, der Kaliningrader Kammerchor „Kyrillisch“ und das Kaliningrader Sinfonieorchester bezaubern mich und die anderen Zuhörer mit ihrer Musik. Mit der Musik von Leib Glantz, die vom amerikanischen Komponisten Joseph Ness arrangiert wurde. Und natürlich ist es der Maestro Arkadi Feldman, der hier auf fabelhafte Art und Weise dirigiert.
Klein von Gestalt, doch ein Mensch mit überwältigender Aura, das ist Arkadi. Immer wieder fällt mein Blick auf den Maestro, wie er voller Energie das Orchester, die Solisten und den Chor dirigiert. Vielen Dank, Arkadi, Sie sind ein wahrer Maestro!
27. Januar 2019 im Königsberger Dom.
12. Juni 2015 im Hof der Festung „Friedrichsburg
„Das hier ist kein Deutscher Stammtisch“
Man könnte fast glauben, dass Kaliningrad eine Stadt ist, in der niemand geboren wird. Fast alle meine Kaliningrader Freunde und Bekannten sind nicht hier geboren, sondern im Laufe des Lebens hierhergezogen. Marina stammt aus Kirgisien, Sergej kam nach dem Medizinstudium in Saratow an der Wolga nach Kaliningrad, Arkadi stammt aus der Ukraine, Ludmila wurde im heutigen Samara an der Wolga geboren und auch Wolfgang Sauer und seine Frau Jelena sind Hinzugezogene. Wie, Sie kennen Wolfgang nicht? Dann waren Sie noch nicht in Kaliningrad, oder wenn doch, dann zuletzt vor 2009. Denn im Sommer 2009 begann ein inzwischen bestens etabliertes gesellschaftliches Projekt, welches ohne Wolfgang und Jelena nach kurzer Zeit seinen Geist aufgegeben hätte. „2009 lud der damalige Deutsche Generalkonsul zu einem ‚Deutschen Stammtisch‘ in das nach einer bayerischen Brauerei benannte Restaurant ‚Zötler‘. Am Anfang kamen auch viele Deutsche, die in Kaliningrad lebten, denn man hatte sich ja so einiges zu erzählen. Aber so nach und nach erlahmte das Interesse. Schon nach einem Jahr saßen Jelena und ich manchmal ganz alleine hier im Zötler am Stammtisch.“
Ich lerne Wolfgang und Jelena im Februar 2017 kennen. Den Vorschlag aus meiner Sprachschule, doch mal an einem Mittwochabend um 19.00 Uhr am Lenin-Prospekt ins bayerische Restaurant Zötler zum Stammtisch zu gehen, hatte ich bis dato stets geflissentlich ignoriert.
In Deutschland bin ich auch kein Stammtischgänger, warum sollte ich in Kaliningrad damit anfangen? Und mal ehrlich, ich, als Preuße, in Russland in einem bayerischen Restaurant, an einem „Deutschen Stammtisch“? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Aber so ein Abend im Februar kann ganz schön kalt und ungemütlich sein in Kaliningrad. Warum also nicht doch mal den Versuch unternehmen, zum „Deutschen Stammtisch“ zu gehen und bei Bier und Brezeln (oder Schweinebraten?) Deutsche (oder auch Russen) kennenlernen, die in Kaliningrad leben? Und siehe da, meine Skepsis war völlig unbegründet.
„Das hier ist kein Deutscher Stammtisch!“ Wolfgang klärt mich auf. „Nachdem der ursprüngliche Stammtisch schon 2010 kaum noch besucht wurde, habe ich die Sache in die Hand genommen und den Stammtisch in den ‚TreffTisch Deutschsprachiger‘ (TTD) umgewandelt. In geselliger Atmosphäre treffen sich hier Russen, Deutsche, Österreicher, Schweizer und andere Menschen, Einheimische und Touristen. Es geht darum, sich kennenzulernen, sich auszutauschen, Verständnis füreinander zu entwickeln, Freundschaften entstehen zu lassen, all das auf Deutsch. Unterschiedliche gesellschaftliche Auffassungen sind durchaus erwünscht, aber extreme politische Ansichten haben bei uns keinen Platz. Wir wollen die gegenseitige Wertschätzung fördern und Menschen unterschiedlicher Herkunft miteinander verbinden, anstatt – durchaus bestehende – Gräben zu vertiefen.“ Ich bin beeindruckt. Meine Sorge, dass ich hier in ein Treffen „Ewiggestriger“ geraten würde, weicht schon nach kurzer Zeit einem echten Interesse, mehr über die Menschen zu erfahren, die hier zusammenkommen.
Und wie hat es den deutschen Rentner Wolfgang und seine russische Frau Jelena nach Kaliningrad verschlagen? Nun, gegen Ende seines aktiven und erfüllten Berufslebens in einer niederrheinischen Blumenvermarktung suchte der diplomierte Gartenbauingenieur Wolfgang nach einer sinnvollen Beschäftigung im Ruhestand. Nach Reisen durch Australien und Südafrika fuhr er im Jahr 2000 mit dem Auto von Deutschland nach Sibirien. In Tyumen hatte Wolfgang erst Pech, aber dann meinte das Schicksal es sehr gut mit ihm. Das Pech bestand darin, dass er feststellen musste, dass seine Expertise im Gartenbau in Sibirien nicht wirklich gefragt war. Man war wohl mehr daran interessiert, dass er Geld ins Land bringt als an Fachwissen. Seine Karriere als Seniorexperte in Sibirien endete, bevor sie überhaupt begann. Aber wie das nun einmal so ist im Leben: Auch aus einer erfolglosen Geschichte kann sich etwas Gutes entwickeln. Das Gute für Wolfgang trägt den Namen Jelena. Da Wolfgang (jetzt immer noch) des Russischen nicht mächtig war, brauchte er in Tyumen für die offiziellen Gespräche eine Übersetzerin. Was für ein Glück, dass die Übersetzerin Jelena nicht nur ausgezeichnet Deutsch sprach, sondern obendrein auch noch äußerst sympathisch war.
Die weitere Geschichte ist schnell erzählt. Wolfgang und Jelena wurden ein Paar, lebten nach Wolfgangs Pensionierung mehrere Jahre lang in Tyumen und bereisten außerdem weite Teile Russlands. Mit seiner deutschen Rente kam Wolfgang in Sibirien ja prima über die Runden, aber ein Problem wurde dann doch sichtbar: die Krankenversorgung. Wer sibirische Krankenhäuser kennt, der wird verstehen, dass Wolfgang es dann doch vorzog, in – oder näher an – seinem Heimatland Deutschland zu leben. Und da Jelena ihre Mutter nicht völlig alleine zurücklassen wollte, bot sich Kaliningrad als ideale Kompromisslösung. Nahe genug an Deutschland, aber immer noch in Russland. 2004 begannen Wolfgang und Jelena in Kaliningrad nach einem Haus zu suchen und wurden schließlich fündig. Nicht in Kaliningrad, aber in Znamensk. Im Kapitel „Selbstverständlich mündet die Lawa in den Pregel“ werden Sie, liebe Leserschaft, mehr über den Ort erfahren, in dem Wolfgang und Jelena seit 2006 leben.
„Bei uns hier spielt es übrigens überhaupt keine Rolle, was für einen Titel oder welche berufliche Position man hat. Hier sprechen wir auf Augenhöhe miteinander und duzen uns.“ Wolfgang verrät mir somit eines der Geheimnisse, warum der Trefftisch so erfolgreich ist. Und ein anderer Grund dafür besteht zweifelsohne darin, dass Wolfgang und Jelena prima zuhören können. Ja, die beiden beherrschen die Kunst, aufmerksam und interessiert zuhören zu können. Und dadurch geht es wohl den meisten Menschen, die zum ersten Mal zum Trefftisch ins Zötler kommen, genauso wie mir: ich jedenfalls fühle mich sofort wie „unter guten Freunden“. Natürlich kann ich nicht verhehlen, dass auch das bayerische Bier und das deftige Essen zur gemütlichen Atmosphäre beitragen.
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